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Gewerkschafter suchen Identität

Die algerische Gewerkschaft UGTA treibt die Privatisierung der Staatskombinate voran und vertritt die Arbeiter. Die müssen sich nun mehrere Jobs suchen  ■ Aus Algier Reiner Wandler

Zwei Wochen lang blieben die Maschinen von Air Algérie wegen Streiks auf dem Boden. Bei der algerischen Post stehen die Zeichen auf Sturm. Die Arbeiter der staatlichen Kaufhauskette EDGA gehen fast täglich gegen die Schließung auf die Straße. Die Metallarbeiter taten das gleiche während der ersten Jahreshälfte. Die sozialen Konflikte in Algerien sind nicht mehr zu übersehen. 30 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos. Alleine in der ebenfalls staatlich gelenkten Bauwirtschaft wurden vergangenes Jahr 80 Betriebe geschlossen – 130.000 Arbeiter wurden arbeitslos. Die Industrie hat 11.000 Menschen entlassen. Die Unzufriedenheit nimmt zu.

Die Gewerkschaft UGTA ist gefragt. Will sie verhindern, daß ihr die Basis wegbricht, muß sie Stellung beziehen. Keine leichte Aufgabe für die übermächtige und zugleich schwerfällige Gewerkschaftszentrale. Seit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 verstand sich die UGTA als eine der wichtigsten Stützen der Macht. Sie war ein reiner Transmissionsriemen der Regierungsentscheidungen. In Zeiten des Umbruchs sucht sie nach einem neuen Platz in der Gesellschaft.

„Eine unabhängige, kämpferische Einheitsgewerkschaft“ schwebt Abdelkader Kitab, dem Vorsitzenden des Bereichs Metallurgie und Anlagenbau, vor. Sein Vorbild ist die deutsche IG Metall, bei der er während des Unabhängigkeitskrieges als ständiger Delegierter der UGTA für Solidarität warb. „Wir wollen so viele Arbeitsplätze wie möglich erhalten und gleichzeitig die Industrie wieder wettbewerbsfähig machen“, beschreibt Muhammad Sedik Kordschani, sein Kollege im Sektor Mechanik und Elektronik, wofür die Gewerkschaften eintreten sollen.

Algerien ist das höchstindustrialisierte Land Nordafrikas. Doch die großen Kombinate, die in den siebziger Jahren unter Präsident Huari Bumedienne mit Hilfe der Einnahmen aus der Erdölförderung aufgebaut wurden, stecken in einer tiefen Krise. Ähnlich wie in den ehemaligen Ostblockländern sind die Betriebe nicht auf den freien Wettbewerb vorbereitet. Jetzt, da durch die Öffnung des Landes gesicherte Märkte wegbrechen, ist eine Umstrukturierung unausweichlich.

Die Gewerkschafter wissen das. „Deshalb sind wir nicht gegen die Privatisierung der ehemaligen Industrie. Wer hier einsteigen will, ist herzlich willkommen“, sagt Kitab. Er segnet das Ende der Staatswirtschaft ebenso ab wie die Aufspaltung großer Betriebe in kleinere Einheiten. Eine Politik, die die Regierung seit Jahren betreibt, um „gesunde Kerneinheiten“ zu erhalten. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank hatten Algerien die Umstrukturierung verordnet. Unweigerlich verstrickt sich die UGTA in Widersprüche zwischen Arbeiterinteressen, die sie eigentlich vertreten will, und dem Wohl der algerischen Wirtschaft, für das sie sich nach wie vor verantwortlich fühlt.

Die kleinen, aus den Kombinaten ausgelagerten Betriebe gehen meist in Belegschaftsbesitz über. Zufrieden sind die Arbeiter damit nicht. Verdienten sie einst als Maler, Schreiner oder Drucker Industrielöhne, müssen sie jetzt selbst für Aufträge und damit für ihr Auskommen sorgen. Zwar haben sie üblicherweise Verträge mit dem ehemaligen Stammbetrieb, doch das reicht zum Überleben des neuen Kleinunternehmens nicht aus. „Früher arbeiteten zum Beispiel die Fahrer der Werksbusse höchstens zwei Stunden am Tag. Einer morgens, um die Arbeiter zur Schicht zu bringen, und einer mittags für den Nachhauseweg“, sagt Kitab, der nur zu gut weiß, daß die betroffenen Arbeiter diesen Arbeitsrhythmus gern beibehalten würden. Statt dessen haben die frischgebackenen Unternehmer einen Vertrag über die tatsächlich geleistete Arbeit. Den Rest müssen sie auf dem freien Markt hereinholen.

Proteste gegen die „Filialisierung“ sind deshalb an der Tagesordnung. „Der Schritt in die Selbständigkeit ist nicht leicht. Aber der einzige Weg, die Arbeitsplätze zu retten und den Stammbetrieb wieder flottzumachen“, verteidigt Ketab diese Politik und wirft den Betroffenen vor, eine „heute nicht mehr finanzierbare Beamtenmentalität“ zu besitzen.

Die Belegschaften der beiden größten Betriebe der Metallsparte, des Herstellers von Stahlprofilen, Sider, und des Bus- und Lkw-Fabrikanten SNVI, gehen deshalb seit Monaten auf Distanz zu ihrer Gewerkschaft. Die Betriebsräte mobilisieren die Arbeiter zu einem Warnstreik nach dem anderen, um die Aufspaltung in kleinere Einheiten zu verhindern. Den beiden Obermetallern ist das egal. Sie hätten das große Ganze im Blick. „Und da haben wir durchaus Erfolge vorzuweisen“, ist sich Kitab sicher.

Er benennt das Abkommen mit Regierungschef Ahmad Ujahia von Anfang Oktober. Die Regierung verpflichtete sich darin, künftig in der Metallindustrie auf weitere Werksschließungen und Entlassungen zu verzichten. Der bilaterale Vertrag ist der erste seiner Art in den 36 Jahren algerischer Unabhängigkeit. Nie zuvor hat ein einzelner Sektor direkt mit der Regierung verhandelt und ein Abkommen unterschrieben. Dem Erfolg am Verhandlungstisch gingen mehrere eintägige Streiks in der gesamten Metallindustrie voraus. „Doch was endgültig Wirkung zeigte, war die offene Drohung mit einem Generalstreik“, sagt Kitab.

Den Kritikern der offiziellen Gewerkschaftslinie kommt diese Initiative zu spät. Sie rechnen vor, daß allein in der Metallindustrie von 210.000 Arbeitsplätzen im Laufe der Umstrukturierung 52.000 abgebaut wurden. Daß die Metallgewerkschaften für viele der Entlassenen 300.000 Dinar (9.000 Mark) Abfindung – den Lohn von zwei Jahren – ausgehandelt hat, ist für die Betroffenen ein schwacher Trost, da die Arbeit immer knapper wird.

„Wir kommen nicht darum herum, uns an den Weltmarkt anzupassen“, gehen Kitab und Kordschani über die Klagen hinweg. Die Gewerkschaften müßten einerseits den „wilden Kapitalismus“ bekämpfen, sich aber auch gleichzeitig „der Verantwortung für die gesamte Wirtschaft“ stellen. „Es wäre leicht, einen Flächenbrand zu legen. Aber wäre das die Lösung nach dem Alptraum, den wir die letzten Jahre durchlebt haben?“ fragt Kordschani.

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