: Die Menschen der Wohnsiedlung 6
In der ungarischen Kleinstadt Tatabánya lebt die Hälfte der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Von dem Glanz der einstigen Bergbauregion ist nichts geblieben. Das Bremer Rote Kreuz hilft ■ Bericht und Fotos von Kay Michalak und Laura Marina
„Du verläßt für ein Wochenende deine Wohnung, besuchst ein paar Freunde oder die Familie in Budapest, kommst am Sonntagabend zurück und Haustür und Fenster sind weg. In irgendeinem Ofen deiner Nachbarn verfeuert.“ Natürlich seien die Cigányok, die Zigeuner, an allem Schuld, berichtet László (53). Nach und nach seien sie in die Nachbarschaft gezogen. Jemand anderer wolle die baufälligen Häuser freiwillig kaum noch bewohnen. László lebt in der Siedlung mit dem wenig einfallsreichen Namen „Wohnsiedlung 6“ in der ungarischen Kleinstadt Tatabánya mit ihren 75.000 EinwohnerInnen, 55 Kilometer westlich von Budapest.
1896 waren hier die ersten Kohlereviere erschlossen worden. Der erste Schacht eröffnete unweit der Stadt. 30 Jahre später war die Region eine der dynamischsten Ungarns geworden. Hier siedelte bedeutende Schwerindustrie; 1947 wurden verschiedene Gemeinden unter dem Namen Tatabánya zusammengeschlossen. Fast die Hälfte der Einwohner Tatabányas lebt seit Jahren unter der Armutsgrenze. Von den vielen Arbeitsplätzen in den 20 Kohlebergwerken, einem Steinbruch, einer Zementfabrik und einem Aluminiumwerk sind nur wenige geblieben. Vier davon im nahe gelegenen Steinbruch.
Am schlimmsten steht es in der Wohnsiedlung 6. In der Bergarbeitersiedlung, erbaut vor hundert Jahren, herrscht blanke Not. 70 Prozent der Menschen haben kein regelmäßiges Einkommen, seit mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems Bergwerke und Hütten geschlossen wurden. Viele Bewohner haben damals ihre Häuser verlassen, und woanders Arbeit gesucht. Sie stehen leer und verfallen, wenn nicht Obdachlose und Zigeuner dort einziehen.
Ein solcher Neuzuzug ist die Familie Setét. Wie viele andere Familien ist sie aus den rumänischen Karpaten nach Tatabánya gekommen. Verbessert hat sich dadurch für sie nichts. Der Mann liegt nach einem Schlaganfall seit Wochen im Krankenhaus. Frau Setét hat schwer Zucker und epileptische Anfälle. Ihre Tochter Erzsébet (31), die noch in Rumänien ihr Abitur gemacht hat, kann sich kaum bewegen. Muskelschwäche, sagt der Arzt. Weil sie außerdem schwere Neurodermitis hat, meiden Nachbarn den Kontakt, Taxifahrer wollen sie nicht mitnehmen. „Alle glauben, das ist ansteckend“, sagt die junge Frau. Der einzige, der ihr Mut macht, ist ihr jüngerer Bruder – ebenfalls an Muskelschwäche erkrankt. Trotzdem hat er jetzt seinen Führerschein gemacht. „Ich bewundere meinen Bruder, weil er einen so starken Willen hat, im Gegensatz zu mir. Ich verliere Tag für Tag meine Kräfte und werde depressiv. Vielleicht haben wir doch eines Tages das Geld, um ein Auto zu kaufen und mein Bruder kann mich dann mitnehmen. Leider hat er noch keine Arbeit gefunden.“
Von den 60.000 Forinth, etwa 600 Mark, die die Familie monatlich bekommt, gibt sie 30.000 nur für Medikamente aus. Die Krankenkasse zahlt vieles nicht. Nur Grundnahrungsmittel sind erschwinglich, alles andere ist teuer wie im Westen.
Immerhin ist die Wohnung der Familie Setét in Ordnung. Eine Ausnahme. In den meisten Häusern der Siedlung gibt es Wasser nur aus einer Pumpe, an der sich je zwei Straßenzüge bedienen. Kanalisation fehlt, elektrische Leitungen liegen offen, in den Wänden zieht die Feuchtigkeit hoch. Oft teilen sich sieben oder acht Personen einen Raum. Wer aber leerstehende Wohnung mieten will, hat Pech: Die Stadt, die die Eigentümerin der Siedlung ist, läßt die Häuser lieber leerstehen und verrotten. Dann können sie abgerissen werden.
Sowieso hilft die Kommune nur begrenzt. Bürgermeister János Bencsik läßt durchblicken: „Wir haben in Gegenden wie der Wohnsiedlung 6 schlechte Erfahrungen mit Geldunterstützung gemacht. Seit drei Jahren geben wir die Unterstützung deshalb in Form von Naturalien aus.“
Daß Tatabánya mittlerweile größter Standort für die Produktion von Autofelgen weltweit ist, daß hier neuerdings auch Computerteile gefertigt werden, hilft den Bewohnern der Siedlung 6 wenig. „Die meisten haben keine Bildung. Und Zigeuner sind schwer zu vermitteln“, sagt der Bürgermeister.
Ein neues Projekt der Stadt klingt vielversprechend. Damit Häuser renoviert werden, stellt die Stadt Baumaterial bereit. So bekommen die Menschen Arbeit, für die sie bezahlt werden – und der ständige Diebstahl von Baumaterial hätte ein Ende .
Zweimal im Jahr kommt außerdem Hilfe aus Österreich und Deutschland. Jeweils im April und im Oktober starten in Bremen und Linz Hilfstransporte des Roten Kreuzes. Zuletzt rollten zehn Lastwagen mit 23 Tonnen Hilfsgütern und einer Gulaschkanone in die Kleinstadt Tatabánya. Die Lebensmittel, Kleider, das Spielzeug, die Hygieneartikel, Medikamente und die medizinischen Hilfsgüter wurden dringend erwartet. Sogar drei Beatmungsgeräte brachten die 25 ehrenamtlichen HelferInnen zuletzt mit – auf Bestellung des ungarische Roten Kreuzes vor Ort.
Während dessen Helfer die Logistik vor Ort und die großen Essenausausgaben organisieren, steht im Club Colonia László am Tresen: „Es ist ja gut gemeint mit den Spenden, aber schaut die Zigeuner doch an. Die stellen sich hier zwei-, dreimal in die Reihe und zu fressen kriegen es die Hunde. Und mit den Kleidern machen sie ein Feuer.“ Aber der Kneipenwirt hört nicht hin. Er ist einer der wenigen in dieser Siedlung, die zufrieden sind. Vor sechs Jahren ist der ehemalige Zehnkämpfer in diese Gegend gezogen. „Meine Kneipe ist ein Ort, wo Menschen fröhlich sind.“
Spenden: Stichwort Tatabánya, Deutsches Rotes Kreuz, Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01, Konto. 11 08 125
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