: Kirche mit Badewanne
■ 250 evangelische Kirchen gibt es in Berlin. In einer leben ganz normale Menschen - ein einmaliges Architekturprojekt in Spandau
Burgen, Kirchen und Mühlen – solche alten Gemäuer haben immer schon einen magischen Reiz auf Maria Beckmann ausgeübt. So auch der romanisch-gotische Backsteinbau der Lutherkirche in Spandau. Und als die Witwe vor gut einem Jahr eine Annonce in der Tagespresse las, daß das halbe Schiff der Kirche in Sozialwohnungen umgewandelt wurde, zögerte sie nicht lange. Mit Sack, Pack und beiden Söhnen im Schlepptau zog die Endfünfzigerin in die als sozialer Brennpunkt verrufene Spandauer Neustadt. „Viele meiner Freunde haben mich für verrückt erklärt, daß ich meine Schöneberger Wohnung dafür aufgeben wollte“, sagt sie. „Doch als ich vor dem Gebäude stand und den in die Fassade gemeißelten Lutherspruch ,Ein feste Burg ist unser Gott‘ las, da wußte ich: Hier will ich leben.“
Maria Beckmann ist religiös. Sonntägliche Kirchgänge gehören zu ihrem Leben wie tägliches Zähneputzen und Fernsehen. Doch in dieser Hinsicht ist sie vermutlich die Ausnahme unter der Mieterschaft im Spandauer Gotteshaus. Von den anderen acht Mietparteien wurde bei den Gottesdiensten noch keiner gesichtet. Aus der gegenüberliegenden Wohnung eines jungen Arbeitslosen wummert schon tagsüber ohrenbetäubender Techno-Sound.
Nicht etwa Kirchenzugehörigkeit und Frömmigkeit waren die Bedingungen für eine Aufnahme im wohl sakralsten Mietshaus der Stadt, sondern allein der sozial schwache Status seiner Bewohner. Ein Umstand, der die Kirchenguste, wie die Bauherrin Auguste Viktoria schon ihrerzeit genannt wurde, sich wohl im Grabe umdrehen ließe. Schließlich bescherte die fromme Kaisergattin vor hundert Jahren fast jedem Berliner Bezirk seine Großkirche. 250 evangelische Kirchen gibt es in der Stadt, 150 stehen im Westteil. Der Erhalt der Häuser ist teuer. Prächtige Fassaden täuschen darüber hinweg, daß den Gotteshäusern die Pleite droht. Während die Luthergemeinde bis zum zweiten Weltkrieg noch rund 40.000 Mitglieder zählte, kommt sie heute gerade mal auf ein Zehntel. Die 1.500 Sitzplätze in der Lutherkirche waren fast nie besetzt.
Bereits Mitte der 60er Jahre beschäftigte sich die Gemeindeleitung mit dem Gedanken, die Kirche auch anderweitig zu nutzen. Die Ideen reichten von einer Umwandung zum Gemeindezentrum bis zum Abriß des sanierungsbedürftigen Gemäuers. Erst 1985 entstand auf Initiative des damaligen Landeskonservators das Pilotprojekt „Wohnen in der Kirche“. „Wir wollten eine Kirche, die jeden Tag genutzt wird“, sagt Pfarrer Kranz.
Ende der 80er Jahre wurde schließlich die Außenhaut saniert und die gesamte Kirche unter Denkmalschutz gestellt. Der auf 300 Plätze verkleinerte Sakralraum reicht für die heutigen Bedürfnisse völlig aus. In die Seitenschiffe zogen die Küsterei und ein Kirchencafé. Im Frühjahr 1994 begann man mit dem Bau der neun Sozialwohnungen im Hauptschiff.
Die ursprüngliche Idee, hier vor allem Alten- und Behindertenwohnraum zu schaffen, mußte aufgrund strenger denkmalpflegerischer Auflagen begraben werden: Einen Aufzug lehnte die Denkmalbehörde ab, obendrein sollte die das Kirchenschiff umlaufende Empore erhalten und umbaut werden. Das Resultat: Jede Wohneinheit hat verschiedene Wohnebenen, verbunden mit einzelnen Stufen. Die Maisonettewohnungen sind zwar schick, Behinderte und Alte riskieren jedoch den Halsbruch.
Moderne Heizungen, Teppichböden, offene Einbauküchen und die für Neubauten übliche niedrige Geschoßhöhe machen die Wohnungen behaglich. Lediglich die Außenwände lassen das Kirchenschiff erahnen: Nicht nur die ursprüngliche Form der Fenster, sondern auch die in Ziegelwerk gearbeiteten Säulen, Friese und Nischen blieben erhalten. Ein einzigartiges Projekt: Der Umbau kostete am Ende fast drei Millionen Mark. Eine Summe, die heute kein Investor mehr für den Bau von neun Sozialwohnungen genehmigen würde. Kirsten Niemann
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