Cream of Crime: In 30 Stunden durch die Stadt
■ Der Flaneur als Verbrecher, sich selbst auf der Spur: Peter Landesmans „Der Stundenläufer“
Als „die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge“ beschrieb Walter Benjamin den „gesellschaftlichen Gehalt“ der frühen Detektivgeschichte. Er meinte Edgar Allan Poe. Peter Landesmans New- York-Roman „Der Stundenläufer“ läßt sich als konsequente Umstülpung dieser Überlegung verstehen: Nathan Stein, ein „erfolgreicher“ Anwalt, den nur kriminell zu nennen ein Euphemismus wäre, ist auf der Flucht. In den letzten Stunden seines Lebens, von Sonntag nachmittag bis Montag abend, die das Buch erzählt, gerät er sich selbst auf die Spur und läuft weg. Nicht nur vor seinem Leben. Hinter ihm her ist Errol Santos, der Bruder von Steins Halbschwester, der möglicherweise auch sein Halbbruder ist. Isabel, ebenjene Halbschwester, ist ermordet worden. Vielleicht von Stein, der sich besonders übel gegenüber Frauen benimmt. Vielleicht als Konsequenz seiner schmierigen Machenschaften. Denn er plündert seine Klientel aus, seine „Goldesel“, arme Schweine, die er um Kautionsgelder betrügt, an denen er Parteienverrat begeht.
So irren Stein und Santos 30 Stunden durch die Stadt und, retrospektiv, durch Jahrzehnte ihres Lebens: „Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag“, heißt es bei Benjamin, „jede wird ihn auf ein Verbrechen führen.“ Es sind vor allem Verbrechen aus Gier, aus Herzlosigkeit und aus Geilheit, die unseren neuzeitlichen Flaneur Stein ruhelos zwischen Coney Island, Brooklyn, Brigthon Beach, Manhattan und Long Island hin und her treiben. Ganz im zeitgeistigen Rhythmus, ständig verfolgt von Piepern, Pagern und cell phones.
Diese kriminelle Verwandlung des Flaneurs, vom Beobachter zum potentiellen Täter, ist nur einer der Subtexte, mit denen Landesman seinen Roman heimlich unterfüttert. Ein anderer ist der „Ulysses“. Steins 30 Stunden führen ihn, wie weiland Leopold Bloom, durch alle möglichen und unmöglichen Szenerien der Stadt. Durch die Hölle von Riker's Island, das Schnellgericht in Manhattan, durch Stundenhotels, schicke Landhäuser in East Hampton, die Upper West Side und suspekte Bars auf Coney Island. Jüdische, russische und Latino-Milieus sind überblendet mit dem Ambiente eisiger Law-Firms und heilloser Sterbezimmer in abgewrackten Kliniken. In 30 Stunden ballt sich die Essenz der Stadt, ihre Gewalttätigkeit und ihr Wahnwitz. Der „Weltalltag“ ist am Ende des Jahrhunderts rauher, roher und irrer geworden.
Ein drittes Muster der klassischen urbanen Literatur zieht sich durch den Roman: Nathan Stein ist eine Art Dorian Gray, dem es nie gelingt, sein abstoßendes Wesen wenigstens zeitweise in ein Bild zu bannen. Es bricht sich Bahn, „bis das, was wir wirklich sind, ans Tageslicht drängt und über unsere hübschen Gesichter quillt“. Talentiert, gut aussehend und mit allen Möglichkeiten der Welt ausgestattet war er mal. Ein Idealist, der schnell gemerkt hat, daß man mit Idealismus Kohle machen kann. Darauf ist er so fixiert, daß er sich Anrufe bei sich selbst in Rechnung stellt. Solche wunderbar absurden Details bewahren das Buch davor, in ein allzu plump kriminalliterarisch gewendetes Durchdeklinieren literaturhistorischer Subtexte abzustürzen. Landesmans genauer Blick für die Vielfalt der Stadtlandschaften und ihrer Bewohner machen den „Stundenläufer“ zu einem gelungenen Stück „panoramatischer“ (ein letztes Mal Benjamin) Literatur. Und obwohl er auf eine glatte Auflösung der mysteriösen Vorfälle um Isabel Santos' Tod verzichtet, treibt die Frage, was geschehen ist, den Roman nicht nur dramaturgisch an, sondern motiviert auch die Bewegungen der Figuren durch Zeit und Raum. So vielschichtig können Kriminalromane sein. Vor unbedarfter Nachahmung allerdings sei gewarnt. Thomas Wörtche
Peter Landesman: „Der Stundenläufer“. Roman. Deutsch von Hans-Ulrich Möhring. List Verlag, München 1999, 345 Seiten, 39,90 DM
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