: Der Gefangene von Gaghan
Wenn Träume Wirklichkeit werden und aus der Wirklichkeit ein Alptraum wird: Was Schriftsteller im Iran erleben können. Eine wahre Geschichte ■ Von Huschang Golschiri
Lieber Naser,
wir haben Deinen Brief erhalten. Es hat uns gefreut. Danke, daß Du an uns gedacht hast. Uns geht es gut, wir sind zur Zeit hier. Ein Ort wie Masule oder unser Baghan; aber hier sind die Häuser auf dem Abhang gebaut worden. Das ist alles. Es gibt keinen Weg oder Pfad, der irgendwohin führt. Als ob wir schon immer hier waren und bis in alle Ewigkeit hier bleiben werden. Aus der Dunkelheit dieser ewigen Nacht fragt eine Stimme: Sind Sie es? Ich sage: Ja! – Hoffentlich haben Sie sich nicht verlaufen? Ich sehe einen Kopf mit einer schwarzen Kappe. Er sagt: Soll ich Ihnen den Weg zeigen? – Danke schön, ich werde ihn selber finden.
Endlich komme ich an. Ich sehe Farzaneh, die auf dem grünen Abhang vor unserem Haus mit irgend etwas beschäftigt ist. Nehmen wir an, sie kehrt den Boden, als ich gerade ankomme. Dann, als wir in der gleichen Dunkelheit, vielleicht auch im dumpfen Licht der Sterne um unsere Tafel sitzen, um etwas zu essen, taucht er wieder auf. Ein junges Männlein, den Kopf nach unten gerichtet, mit neu gewachsenem Flaum im Gesicht, tritt ein. Ohne jemanden zu grüßen, läuft er umher, kreist um uns und betrachtet jeden Gegenstand. Er bückt sich sogar und schnüffelt an den Teegläsern und sogar an der Teekanne, die wir neben den Herd gestellt haben. Dann geht er. Später taucht ein anderer aus der Dunkelheit auf. Ich sage: Bitte schön! – Dankeschön. – Wir haben doch nichts. – Ja, schon gesehen, aber ... wir haben gedacht, vielleicht hat der Teufel Sie wieder in Versuchung gebracht.
Weiber, Stoff und alles, was du brauchst
Die Kinder sind auch da. Du kannst Dich doch an sie erinnern? Unser Ghazal ist jetzt sieben Jahre alt, und unser Barbad ist fünf. Ich weiß nicht, warum sie nicht weinen. Sie sitzen einfach nur so in der Dunkelheit unserer Nächte. Dann kommt wieder ein anderer. Er ist dabei, umherzugehen. Wegen der Kinder, die sitzen und zuschauen, stehe ich auf und folge seinen Schritten. Ich sage: Aber sie sehen doch, daß wir... – Ja. – Wieso kommen Sie dann wieder? – Sie wissen ja, der Bursche ist sehr jung und knapp bei Kasse. Ihr hättet ihm doch etwas in die Tasche stecken sollen.
Ich sage: In Ordnung, sicher. Warum haben Sie das nicht schon eher gesagt? Und ich erinnere mich daran, daß in meiner Hosentasche Zweihundert-Tuman- Scheine liegen. Klar, wenn ich ihm nun fünf Scheine gebe, setze ich einen Punkt. Ich gehe hinauf. Über dem Haus steige ich ab in eine Höhle, wo die runde Treppe mit verrostetem Geländer hinunterführt. Im Treppenhaus sind auch einige von ihnen, eng nebeneinander. Ich gehe, das Geländer tastend, Schritt für Schritt nach unten, bis ich demselben Jungen begegne. Nun ist sein mageres Pferdegesicht gründlich rasiert, und er hat eine hellblaue Jeanshose und leichte Schuhe aus Leinen an. Über seinem gestreiften Hemd trägt er eine Wildlederjacke. Ich sage: Warum hast du das nicht gleich am Anfang gesagt? Ich habe ja nichts dagegen. Er greift nach meinem Arm und sagt: Hier gibt's alles, Weiber, Stoff, was du willst. Du brauchst nur zu sagen.
Ich sage: Ich bin doch nicht wegen dieser Dinge zu dir gekommen. – Willst mich für dumm verkaufen? – Glaube mir. – Willst du mich verarschen? Ich weiß schon Bescheid, weiß alles, was du tust. Hier gibt's auch alles; alles, was du willst: Weiber, Witwen, Stoff. Das gefällt dir doch, oder? — Dann schiebt er mir etwas wie ein kleines Päckchen zwischen Hemd und Haut und sagt: Super Opium. Nimm! Du wirst erleuchtet.
Etwas wie kalter Schweiß läuft mir den Rücken hinunter, bis es mir gelingt, das Päckchen zu finden und es herauszuholen. Ich strenge mich an, ihm das Päckchen wieder in die Tasche zu stecken. Vergeblich! Gegen ihn komme ich nicht an. Ich sage: Ich will nicht den Heiligen spielen, ich habe vielleicht schon mal so etwas geraucht, einige Male, aber nun nehme ich es nicht mehr.
Wenn du Schnaps willst, den gibt's auch. Es gibt auch Whisky, ganz echten. Original! Und Bier. Wir haben Bier in der Dose, dutzendweise. — Ich muß zurück. Meine Kinder warten auf mich, meine Frau... — Er hält die Öffnung seiner Tasche mit der Hand fest, und ich stolpere wieder und falle zu Boden. Ich taste mit der Hand, um das Päckchen zu finden. Er packt aber meine Schulter kräftig und versucht mich hochzuziehen: Laß das sein, es ist egal, ob du ihn findest. Es gibt mehr davon. Ich bringe dich gar zu einem Kiosk. Endlich finde ich das Päckchen und stehe auf: Ich sage: Nein, nein! Ohne mich. Ich muß zurückkehren.
Das Päckchen stecke ich ihm irgendwo in die Kleidung. Er sagt: Okay, in Ordnung. Es ist nun nicht mehr in deiner Tasche, aber vergiß nicht, wir lassen in der Regel eines dieser Dinge in dem Haus des Gegners zurück.
Leugnen hat hier keinen Sinn
Warum denn das? Warum mit mir? – Das kannst du später dort erzählen. Er geht schnell voran. Ich kann nicht mit ihm Schritt halten. Er flüstert ständig: Aber hier mußt du alles aufschreiben, was man von dir verlangt. Er erzählt wieder von denjenigen, die alles gestanden haben. Er sagt: Leugnen hat hier keinen Sinn, du mußt selber wissen. Später stehe ich am Ende einer Schlange, in der allerlei Menschen stehen. Einer fragt mich: Hast du eine Zigarette?
Ich gebe ihm eine. Welch gierige Züge! Sie wollen noch mehr, und ich gebe ihnen. Manchmal ruft ein Mann in mittleren Jahren einen Namen auf. Ein einbeiniger Mann neben mir flüstert etwas. Ich frage: Haben Sie etwas gesagt? – Nichts, mein Lieber. Ich habe mit meinem Gott gesprochen: Gottchen, nur keine Hinrichtung! Wieso Hinrichtung? – Wir sind von der „Drei-Kilo-Sorte“, nicht der Rede wert. Er lächelt zynisch.
Auf der anderen Seite sitzt ein Mann. Er streckt seinen Arm aus und schaltet die Lampe an. Dann sagt er: Also, schreib! Schreib alles auf! Er legt mir einen Stoß Papier vor und drückt mir einen Kugelschreiber in die Hand. Ich kann nicht entziffern, was vor dem Buchstaben F geschrieben ist. Das Licht blendet meine Augen.
Schreib endlich die richtige Version auf
Schreib all deine unanständigen Handlungen und unsittlichen Taten auf. – Was für unanständige Handlungen? Welche unsittlichen Taten? – Denke nach, sie werden dir schon einfallen. Ich lege die Spitze meines Stiftes irgendwo gegenüber dem Buchstaben A und beobachte ihn wieder. Er nimmt ein Buch heraus: Soll ich dir auf die Sprünge helfen? Er blättert. Dann sagt er: Wir wissen, daß du hier am Ende Lügen aufgeschrieben hast. Das ist nicht möglich. Sie sind jahrelang ineinander verliebt, sie haben so viele Rauschgetränke hinuntergespült, und nun liegen sie wie zwei Nonnen nebeneinander und sagen gute Nacht. Nun, fang gleich damit an. Schreib hier die richtige Version auf.
Ich sage: Der Ibrahim kann nichts anderes tun. Wenn er nur seine Hand ausstreckt, wird er für immer dort bleiben. Dann kehrt er eben nicht mehr zurück. – Vergiß Ibrahim. Was ist mit dir? Schreib ganz genau auf, was dort passiert ist. – Ich bin doch nicht Ibrahim. Dort steht Ibrahim, und er ist nicht gewillt, trotz seiner, wie Sie meinen, Unanständigkeit, alles zu verderben. – Gestehst du also, daß die unsittlichen Taten doch nicht das Wahre sind? – Es hängt davon ab, wann und wo. – Was ist hiermit? Du sitzt auf der Terrasse und genießt deinen Schnaps, langsam, Schluck für Schluck, jeden Abend. – Das ist doch eine Geschichte. Es ist jemand anderes. Der heißt Raie. – Wenn du das selbst nicht erlebt hättest, hättest du es doch nicht aufschreiben können. – Es ist doch eine Erzählung. Außerdem passierte es ja vor mehr als zwanzig Jahren. Er nimmt ein anderes Buch und blättert. Dann ein anderes. Hier, du weißt doch? Dieser Maler; er läuft jeden Tag herum, um gierig nach fremden Frauen zu sehen, um jedesmal einen anderen Körperteil von ihnen zu malen. Dann geht er in eine ferne Ortschaft, um mit seiner Jugendliebe zu schlafen. – Das sind alles nur Geschichten. Glauben Sie mir, manche habe ich im Traum gesehen, wie diese, die nun... Er schreit: Was ist mit dem? Wo war das?
Er wirft die Bücher herunter. Zuerst blättert er in einem herum, dann in dem andren. Er schaut mich aus blutunterlaufenen Augen an: So war das, ich erinner' mich daran: Als er die Tür öffnet, sieht er sie dort stehen, im kurzärmligen weißen Satinkleid, Mantel und Kopftuch in der Hand. Und dann, als das Weibchen hereinkommt, setzt er sie auf die Bettkante und setzt sich neben sie hin. Du erinnerst dich doch daran? Er sitzt neben ihr und spielt mit den Knöpfen, macht sie auf, dann zu. Er redet ständig über dies und jenes, daß sie sich keine Sorgen machen soll, es wird doch alles wieder gut. – Was? An diese Sätze kann ich mich nicht erinnern.
Gnade, Gnade, lieber Gott, vergib mir!
Er steht auf: So, du erinnerst dich nicht daran! Ich helfe nach. Dann, die arme Frau sieht auf einmal, daß sie mit dem nackten Oberkörper gegenüber einem Rindvieh wie dir sitzt, und bricht in Tränen aus. – Ich habe Ihnen schon gesagt, das habe ich nicht geschrieben. – Du wirst es aber schreiben. Eines Tages wirst du das schreiben. Er geht bis zur heruntergezogenen Jalousie und kehrt wieder zurück. Er sagt: Alles derselbe Quatsch, entweder gibt es Peitsche oder Hilfeschreie oder diese Frau hier, die wegen Fürsprache ihres Mannes gekommen ist, und das in dem glänzenden Satinkleid, mit schwarzen Haaren. Sogar als sie ihr Kleid wieder anzieht, um zu gehen, weint sie noch. Ihr seid der Teufel in Person. Und das, was ihr schreibt, sind Versuchungen der Teufel, als ob der Gott nicht existieren würde, als ob es niemanden auf dieser Erde geben würde, der in Richtung Mekka sitzt und bis zum Morgengrauen zu Gott betet: Gnade, Gnade, lieber Gott, vergib mir. Ich frage dich, warum soll man nur solch einen Quatsch schreiben? Ist das Zeug schreibenswert?
Ich sage: Nun, was soll ich schreiben? – Alles, was geschehen ist. Schreib aber die Wahrheit, alles, was du getan oder geschrieben hast. Ich schreibe diese Szene auf, und dann ... ich weiß nicht, welche ... ich schreibe und schwärze das Papier voll, und dann lege ich es ihm vor. Er schaut nicht hin, schreibt wieder ein F und davor etwas auf. Und ich schreibe, etwas wie das, was ich jetzt für Dich schreibe. Ich schreib' nun das, damit Du Bescheid weißt. Hier ist es nicht schlecht, wenn Du zurückkommen willst, es gibt genug Platz, auch für Dich. Ach weißt Du, komm doch gleich mit Deiner Frau und den Kindern.
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