■ Angst vor der Nähe * Auf dem Weg zum Bürgerstaat (I): Die Deutschen lenken mit der Forderung nach Integration der Ausländer von eigenen Defiziten ab: Angst vor der Nähe
Ein Begriff wabert durchs Land – Integration. „Ja zur Integration – nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ fordert die Union mit ihrer Unterschriftenkampagne. Und sie meint, Einbürgerung dürfe erst am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses stehen. Der SPD- Bundestagsabgeordnete Hans-Ulrich Klose stellte kürzlich in der Zeit gar fest, daß die Integration von Millionen von Ausländern „leider mißglückt“ sei. Auch die Bündnisgrünen sehen ein Integrationsdefizit und wollen diesem mit der erleichterten Einbürgerung beikommen. Links und rechts sind sich einig: Ausländer sind zuwenig integriert.
Worum geht es? Um die Fähigkeit, mit Messer und Gabel zu essen? Sollen sich die Einwanderer in die kleinbürgerlich-schwäbische Welt der Kehrwoche integrieren oder in das schwullesbische Universum deutscher Großstädte? Sobald der Blick sich nicht dem Konstrukt Ausländer, sondern dem einzelnen Einwanderer zuwendet, bleibt nicht mehr sehr viel übrig von der Klage der Desintegration. Seit den frühen sechziger Jahren haben sie eine enorme Anpassungsleistung vollbracht. Sie sind längst in dieser Gesellschaft angekommen: als Fabrikarbeiter und Unternehmer, als Immobilienbesitzer und Schuldner, als Diebe und Mörder, als Polizisten und Soldaten.
Die Diskussion um Integration ist eine Gespensterdebatte. Unklar bleibt, was die Deutschen von den Ausländern eigentlich wollen, außer daß sie sich an die Gesetze halten, was der Großteil nachweislich ja tut. Das Palaver um Integration sagt mehr über die aus, die sie fordern, als über jene, von denen sie verlangt wird. Der Subtext lautet: Ausländer, seid wie wir, legt eure Fremdheit ab!
Lieber Therapeut sein als Patient! Indem wir Altbürger Integrationsdruck auf Einwanderer ausüben, entbinden wir uns der Selbstbefragung, wie fit jeder einzelne von uns für das Einwanderungsland Deutschland ist. Um nichts anderes geht es bei der momentanen Aufregung. Im Gegensatz zu den Einwanderern sind wir denkbar schlecht gerüstet für die Modernisierung der Gesellschaft im Zuge der Reform des Staatsbürgerrechts.
In diesen Tagen erleben wir die Folgen einer gestörten Kommunikation, die die Berliner Journalistin Tülay Cinar einmal so formulierte: „Ständig wollt ihr wissen, wie sich das Leben zwischen den Kulturen anfühlt? Wir berichteten geduldig, öffneten uns, redeten gegen Vorurteile an, aber über euch haben wir wenig erfahren. Als Menschen mit einer eigenen, ganz persönlichen Geschichte seid ihr blaß und blutleer geblieben. Ihr tut so, als wärt ihr als Linke, Liberale und Großstädter auf die Welt gekommen, als hättet ihr keine Familien, die euch prägten.“
Die Kritik an der ungleichen Beziehung zwischen Einwanderer und Altbürger stellt nicht nur das Selbstbild der Deutschen in Frage, sie fordert einen längst überfälligen Perspektivwechsel ein. Der Weg in eine offene Bürgergesellschaft ist für die Mehrheit der Deutschen einer mit vielen Stolpersteinen. Niemand von uns wurde weltoffen und tolerant geboren. Und die Wahrscheinlichkeit, entsprechend erzogen zu werden, war in der Vergangenheit eher schlecht.
Ein kurzer Blick zurück in das Deutschland der 50er und 60er Jahre. Eine traumatisierte, paranoide Generation, mental noch längst nicht aus Stalingrad und aus den Wachmannschaften der Konzentrations- und Vernichtungslager zurückgekehrt, prägte jenseits der veröffentlichten Meinung das politische und familiäre Leben. All das, was unsere Großeltern und Eltern, unsere Lehrer und Erzieher mit sich herumtrugen, soll spurlos an uns vorübergegangen sein? Der tiefverwurzelte Antisemitismus, die Phobien gegenüber Andersartigkeit und rassisch Fremdem, der Glaube an die eigene Überlegenheit und die Minderwertigkeit der Unarischen?
All die Mühen der Bundesbürger, als moderne, westorientierte Europäer zu erscheinen und sich mit der Anschaffung von Fernsehgeräten, VW-Käfern und den ersten Reisen nach Italien scheinbare Weltläufigkeit zu erwerben, können nicht darüber hinwegtäuschen: Auch 20, 30 Jahre nach Niederschlagung des Faschismus waren die meisten von uns weit von einem universalistischen Menschenbild entfernt, wie es zum Beispiel in Frankreich seit 1789, bei allen Mängeln im Detail, zum Standard gehört. Solange der seit der Romantik wirksame altdeutsche Traum, die (zwischen 1933 und 1945 gewaltsam hergestellte) Homogenität der Deutschen nicht in Frage gestellt wurde, die wenigen Juden unsichtbar im Land lebten und die Gastarbeiter ihre zugewiesenen Wohnheime und Lager nicht verließen, ließ sich das gut verbergen. Ein Ausländerproblem bekamen die Deutschen in dem Moment, als die Einwanderer ihre Reservate verließen, um sich in diese Gesellschaft zu integrieren.
Je entschlossener die Einwanderer auf die Deutschen zugingen, desto entschiedener wurde die Abwehr, desto offensichtlicher spielte uns unsere Psychostruktur einen Streich. Für jeden, der es sehen wollte, wurde offensichtlich, über wie wenig interkulturelle Kompetenz wir verfügen, wie wenig Differenz wir vertragen, wie mangelhaft wir mit Ambivalenzen umgehen können. Die Antwort auf die größer werdende Nähe waren Angst und Abwehr: Erinnert sei an das inzwischen in Vergessenheit geratene 60er-Jahre-Stereotyp des „messerstechenden Spaghettifressers“. Oder an administrative Maßnahmen wie die Zuzugssperren in den frühen 70er Jahren.
Am deutlichsten formierten sich altdeutsche Phobien gegen Türken – in Skinhead-Songs, im Feuilleton, in Politikerreden, rassistischer Straßengewalt und in Gesetzen. Der Türke ist die Inkarnation der für viele Deutsche nur schwer erträglichen Differenz. Er ist Muslim, er ist Orientale. Wie in einem Lehrbuch lassen sich anhand der Wellen antitürkischer Stimmungen die Reaktionen einer phobischen Nation studieren. Ihren ersten Höhepunkt erreichten die antitürkischen Ressentiments in den Jahren 1982 bis 1985. Was war geschehen? Die erste Generation von Türken, die in Deutschland aufgewachsen ist, erreichte das Erwachsenenalter. Sie sprach deutsch, unterschied sich von den Deutschen weniger als noch ihre Eltern, sie wurde mehr und mehr Teil dieser Gesellschaft. Die objektive Verminderung der Andersartigkeit führte aber nicht zu einer Abnahme der Angst, sondern wurde als Bedrohung der Homogenität empfunden. Die Folge waren immer absurdere Integrationsforderungen.
Einen zweiten Höhepunkt erreichen die antitürkischen Ressentiments in den frühen neunziger Jahren. Sie waren ein erneuter Abwehrversuch, da die Ausländer, vor allem die Türken, nun gefährlich nahe gekommen waren. Zum einen wollten Berlin und Hamburg in den Jahren 1989/1990 Ernst machen mit dem kommunalen Wahlrecht. Zum anderen tritt 1991 das neue Ausländergesetz in Kraft, mit einigen Verbesserungen bezüglich des Aufenthaltsstatus und der Unternehmensgründungen. All das korrespondierte mit dem Prozeß der Wiedervereinigung. Die Aktivierung antitürkischer Ressentiments hat viel zur Homogenisierung der neudeutschen Nation beigetragen.
Alles ein Problem der konservativen Kräfte? Nein. Ende der 90er Jahre ist offensichtlich: Die Einwanderer haben sich emanzipiert. Sie gestalten die Stadtteile, die sie bewohnen, aktiv mit und haben ihre subalterne Rolle hinter sich gelassen. Selbstbewußt zeigen sie Präsenz und sind zu neuen Trägern des sozialen, kulturellen und politischen Lebens geworden. Plötzlich haben auch Linksliberale ihre Nöte. Die Nachbarn werden „gefährlich fremd“. Nach Jahren des unbeschwerten, weil unverbindlichen und weit entfernten Internationalismus melden sich auch bei ihnen altdeutsche Phobien.
Das sind keine guten Voraussetzungen, wenn mit der Reform des Staatsbürgerrechts ein neues Kapitel eröffnet wird. Wie werden die neuen Mittelschichten in Zukunft reagieren, wenn sie mit den Deutschen türkischer und arabischer Herkunft auf gleicher Augenhöhe um knapper werdende Ressourcen konkurrieren? Es wird sich sehr schnell zeigen, wie kosmopolitisch und universalistisch wir in der Tiefe unseres Herzens sind, wo unsere und nicht die Defizite der Einwanderer liegen. Eberhard Seidel-Pielen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen