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Crossover des Intellekts

■ Innovation um jeden Preis: Der Kulturphilosoph Boris Groys eröffnet heute die Literaturhaus-Reihe „Das Neue“

Das Neue ist ein lockender Begriff, verspricht er doch Abschied vom gewohnten Alten und den Anfang von etwas Unbekanntem. Mit diesen Verheißungen des Neuen spielend, annonciert das Literaturhaus eine Veranstaltungsreihe, die sich offenbar dem Überdruß an den üblichen Lesungen verdankt und die die gängigen Rituale des Literaturbetriebs um das Crossover – auch schon kein neues Wort mehr – verschiedener Disziplinen beleben will. Philosophen (Peter Sloterdijk), Künstler (Wolfgang Rihm), Soziologen (Hermann Korte), aber auch alteingesessene Szene-Experten (Diedrich Diederichsen) sind dazu eingeladen. Sie finden sich fortan allmonatlich im Literaturhaus zu einer „interdisziplinären Vortragsreihe“ ein, deren geistiger Ertrag später als Buch vorgelegt wird – im antiquierten Medium des digitalen Zeitalters schlechthin.

Als erster Gast ist der Kulturphilosoph Boris Groys angekündigt, der vor sieben Jahren sein Buch Über das Neue vorgelegt hat. Der aus der Sowjetunion emigrierte Intellektuelle führt darin einen Diskurs über kulturelle Innovationen und untersucht sie anhand ökonomischer Kategorien. Er verwirft die traditionellen Bestimmungen des Neuen: „Die Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird.“ Seine Überlegungen gehen dahin, die Logik der kulturellen Entwicklung als eine ökonomische Umwertung zu verstehen. Als Beispiel nennt Groys den zunehmenden Wert kultureller Artefakte nach einer Phase der Zerstörung: Nach der russischen Revolution hätten Ikonen der Zarenzeit in Rußland ungleich mehr gekostet als zuvor: „Immer wenn man gewillt war, etwas zu zerstören, hat man den Wert dessen, was übrig geblieben ist, gesteigert.“ Aus dieser kulturökonomischen Perspektive wäre Kultur die Demonstration eines Verlustes.

Anhand des Ready-made von Marcel Duchamps veranschaulicht Groys seine Auffassung vom innovativen Tausch. Jedes innovative Kunstwerk präsentiere sich insofern als lohnender Tausch, als ehemals profane Dinge in der Kultur einen Wert bekommen und zur Mode, ja zur Norm werden und andere Dinge profaniert werden und aus der Mode kommen. Mit dieser „Aufwertung des Wertlosen“ und der „Abwertung des Wertvollen“ bestimmt Groys die Innovation als ein Ereignis der Grenzverschiebung. In diesem Bezugssystem wäre das Neue keineswegs etwas Authentisches, sondern verdanke sich dem Wandel durch Tausch. Demnach wäre ein Ende der Kunst, ist doch die Innovation immer in erster Linie eine Wiederholung der Tradition. Den Autor aber macht Groys als Urheber der Innovation aus, er sei „unverzichtbar für die Fortsetzung der kulturellen Tradition“.

Frauke Hamann

heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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