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Christoph BiermannIn Fußballand

■ Charme verloren, Scham verloren: Der große Mythos Günter Netzer ist tot

Früher war Günter Netzer langweilig. Da saß er beim Fernsehsender RTL, als der noch ein Plus im Namen trug, und analysierte jeweils ein Bundesligaspiel. Die Sendung hieß „anpfiff“ und wußte noch nicht, wie man das bunt blöde Durcheinander des Privatfernsehens in Fußball übersetzte. Netzer sezierte das Spiel sachlich, welches er angeschaut hatte, aber Sachlichkeit war nicht Tuttifrutti und damals das Ding von gestern.

Das war vor zehn Jahren oder vor tausend; dann kehrte Günter Netzer zurück. Er war immer noch langweilig – und machte daraus einen Triumphzug. Aufregend wurde er, weil ein Mensch, der mit fester Stimme komplette Sätze nachvollziehbaren Inhalts sprach, einfach zum Helden werden mußte.

Wir schauten ein Spiel, und Netzer sprach darüber. Mit seinen staubtrockenen Wahrheiten warf er uns einen Rettungsring zu, wo wir im allgemeinen Herumschwadronieren zu ertrinken fürchteten. So schien Netzer plötzlich, zum zweiten Mal nach der Europameisterschaft 1972, am kulturellen Fortschritt des Spiels beteiligt zu sein. Was er sagte, hatte den Klang von Wahrheit, denn Netzer versuchte, nicht witzig zu sein, und hatte noch immer die alte, unmögliche Frisur, er war nicht aufgeregt und verstand die Show nicht. Er war der Anti-Star, auf den sich alle einigen konnten.

Das war im französischen Sommer vor neun Monaten oder vor tausend. Jetzt ist Netzer überall. Keine Fußballsendung der ARD, die ohne ihn auskommt. Keine Zeitung kann auf ihn verzichten, wenn es um die Analyse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des deutschen Fußballs geht, um Lothar und Erich, Uli und Berti, Europaliga und Zentralvermarktung, Hallenfußball und und und. So haben wir erkennen gelernt, daß auch Günter Netzer – wie wir alle – nur über eine begrenzte Zahl von Einfällen verfügt. Das zu übertünchen gelingt am besten durch eben jene Verknappung, die ihn in den Jahren zwischen der erfolglosen RTL-Langeweile und erfolgreichen ARD-Langeweile so geheimnisvoll großartig gemacht hat. Da war er zugleich mythische Figur des deutschen Fußballs, erfolgreicher Geschäftsmann im Fußball-Busineß und feuchter Traum aller Fußball-Feuilletonisten. Einer für alle im Fußballand, fern und unerreichbar.

Heute haben wir es nur noch mit einer Abwandlung des bekannten Tontauben-Effekts zu tun, nach dem in den Medien erst einer hinaufgeschleudert wird und sein Flug bejubelt, um dann genüßlich vom Himmel geschossen zu werden. Allerdings geriet Netzer eher zufällig in die Luft, sein erfolgreicher Flug war eine unvorhergesehene Überraschung – doch nun müssen leider die Büchsen herausgeholt und angelegt werden.

Die heutige Netzer-Inflation hat einen gar zu strengen Beigeschmack bekommen. Eifrig wurde sein Kolumnisten-Dasein in der Zeitschrift Sport-Bild ausgeweitet und verlor dabei viel Charme. Offensichtlich auch Netzer ein wenig die Scham, sich etwa gemein zu machen mit der schon fast pathologischen Abneigung der Bild-Familie gegenüber Jürgen Klinsmann. Also watschte auch Netzer zitierfähig Klinsmann ab. Und begann dann so ganz ohne jene Eleganz und Klasse, die den Souverän aus Zürich so lange ausgezeichnet hatte, spießbürgerliche Wertedebatten knapp unter der Grasnarbe zu führen. Kein Geist, kein Charakter und keine Moral werden Borussia Dortmund also von Netzer zugebilligt. Früher redete er über das Spiel, heute über die Spieler, der große Mittelfeldregisseur kommt mit erhobenen Zeigefinger aus der Tiefe des Klassenraums.

Aber warum bloß? Was soll das? Möchte Netzer sich von seinem Erfolgsmodell emanzipieren? Will er nicht mehr langweilig sein? Will er über mehr als nur das gerade vergangene Spiel reden? Das, so sei hier ausgerufen, ist eine Abirrung und darf nicht sein. Vielleicht hat er es ja bereits gemerkt. Seine aktuelle Kolumne konnte endlich wieder mal zu Ende gelesen werden.

Richtig so, es geht nicht anders: Günter Netzer muß langweilig bleiben!

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