piwik no script img

Die islamische Provokation

Die Rolle der Frauen zwischen islamischer Orientierung und der Dominanz westlicher Gesellschaftsentwürfe. Der Wandel durch Globalisierung spiegelt sich nirgends so deutlich wie im Geschlechterverhältnis  ■ Von Birgit Rommelspacher

Der islamische Kulturkreis umfaßt etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Damit hat er als einziger eine Größenordnung die imstande wäre, der christlich-westlichen Welt etwas entgegenzusetzen. Andererseits umfaßt er viele verschiedene Regionen mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen, unterschiedlichen religiösen und ideologischen Strömungen. Von einem „einheitlich agierenden Block“ kann also keine Rede sein. Im Gegenteil. Viele kriegerischen Konflikte der letzten Jahre haben zwischen Muslimen stattgefunden: so die beiden Golfkriege oder auch die Konflikte zwischen den Kurden und der Türkei.

Gleichwohl streben einige Strömungen innerhalb des Islam seit dem Verfall sozialistischer Ideologien eine Meinungsführerschaft der „Dritte-Welt“-Länder gegenüber dem Westen an. Das ist für den Westen Provokation genug, um ein neues Feindbild zu konstruieren.

Die weltweit wachsende Bedeutung islamischer Orientierungen ist in erster Linie eine Reaktion auf Transformationsprozesse, die mit der Globalisierung und der Dominanz westlicher Lebens-und Gesellschaftsentwürfe zusammenhängt. Die Idee der nachholenden Entwicklung hat sich für die ärmeren Länder als sozial desaströs herausgestellt, weil sie Erwartungen geweckt hat, die nicht einzuhalten sind. Denn Globalisierung bedeutet nicht Egalisierung. Vielmehr polarisiert sich die Welt immer weiter in die hochindustrialisierten Regionen und Schwellenländer auf der einen Seite und die übrigen Regionen der Welt auf der anderen Seite. Dabei treiben die wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesse weltweit Millionen von Menschen aus den verarmten bäuerlichen Regionen in die Städte. So brechen traditionelle Familienverbände auseinander, die bisher Schutz und soziale Absicherung gewährten. Die öffentliche Versorgung hingegen ist oft völlig ungenügend. Insofern bleiben die Menschen zur Existenzsicherung mehr denn je auf soziale Gemeinschaften angewiesen.

Auf diese Transformationsprozesse reagiert nun der Islamismus auf mehreren Ebenen: Er bietet konkrete Unterstützung und sozialen Rückhalt angesichts staatlicher Unterversorgung und sozialer Entwurzelung; er verspricht eine politische Alternative für diejenigen, die von den politischen Systemen enttäuscht sind; er fordert Anteil an Macht und Ressourcen gegen die oft westlich orientierten Eliten im Lande und gegen die Dominanz westlicher Lebensmodelle im allgemeinen, die ständig Unterlegenheitsgefühle nähren. Zudem ist er eine Reaktion auf die weltweiten Migrationen, die eine muslimische Diaspora in allen Teilen der Welt entstehen ließ. Er verspricht Orientierung und ideologischen Rückhalt auch außerhalb der gewachsenen Gemeinde. Dabei wird Islamismus hier verstanden als ein Einstellungskomplex, in dem der Islam ins Zentrum des persönlichen und politischen Selbstverständnisses gerückt wird. Er vertritt eine weite Bandbreite von Zielen, die vom Bestreben nach einer geistig-moralischen Reform der Zivilgesellschaft bis hin zur Errichtung eines theokratischen Staates reichen.

Die Transformationsprozesse spiegeln sich nirgendwo so deutlich wider wie in den Auseinandersetzungen um das Geschlechterverhältnis. Dieses ist vielfach zum Symbol von Wandel und Tradition zugleich geworden – insbesondere verdichtet im Kampf um den Schleier, das Kopftuch. Im Westen sehen Frauen und Männer im Kopftuch in der Regel ausschließlich ein Symbol der Unterdrückung der Frau. Das ist keineswegs neu, denn bereits seit der Kolonialzeit glaubten die Kolonialherren bei der Frage des Schleiers im Namen von Fortschritt und Emanzipation mitreden zu müssen. So forderte zum Beispiel Lord Cromer, der Generalkonsul der britischen Kolonialbehörde in Ägypten, die Entschleierung von Frauen. Ein Mann, der in England selbst Gründungsmitglied der Vereinigung der Männer gegen das Wahlrecht von Frauen war. Leila Ahmed spricht in diesem Zusammenhang von einem „kolonialen Feminismus“, in dem sich koloniale Patriarchen, Missionare und Feministinnen einig waren, daß die Muslime „ihre Kultur abzulegen“ hätten, bevor sie in den Kreis der „zivilisierten“ Gesellschaften aufgenommen werden könnten.

Aber auch innerhalb der arabischen Frauenbewegungen war die Frage des Schleiers von Anfang an umstritten. So legte etwa Huda Sha'rawi, die Gründerin der ägyptischen Frauenbewegung, 1923 in einer spektakulären Aktion ihren Schleier öffentlich ab, während andere Frauen dies als einen Akt der Unterwerfung unter die Kolonialmächte und die Männer verstanden haben. Malak Nassef antwortete einer jungen Feministin in einem offenen Brief in einer Kairoer Zeitung zu jener Zeit auf die Frage, ob sie nun den Schleier ablegen solle oder nicht: „Wir werden durch das Unrecht der Männern unterdrückt. Wenn sie sagen, verschleiere dich, dann verschleiern wir uns, wenn sie sagen, entschleiere dich, dann legen wir den Schleier ab. [...] Ihre Worte müssen sorgfältig abgewogen werden, denn sie sind genauso despotisch, wenn sie uns befreien, wie sie despotisch sind, wenn sie uns unterdrücken.“

Das heißt also, daß der Kampf um das Kopftuch mindestens aus drei Perspektiven zu betrachten ist:

– den Interessen der muslimischen Frauen selbst

– aus Sicht des lokalen, heimischen Patriarchats

– aus der Perspektive der globalen dominanten Kultur.

Für die muslimischen Frauen heute, ist das Problem nach wie vor komplex. Die Moderne hat für Frauen unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem, welcher Schicht sie zugehörig sind. So hat sie Frauen der gehobenen Schichten oft ein Mehr an Mobilität, ökonomischer Unabhängigkeit und individueller Selbstbestimmung gebracht. Nicht so für die Frauen der unteren Schichten. Indem ihnen die familiären Netze und die Basis informellen Wirtschaftens entzogen wurde, bedeuten für sie diese Entwicklungen oft Machtverlust. Insofern sind sie auf neue soziale Gemeinschaften angewiesen. Die islamistischen Strömungen bieten hier Unterstützung. Gleichzeitig versuchen sie die Spannungen zwischen den ökonomischen Klassen zu entschärfen, indem sie sich gegen Konsumismus und Individualismus wenden. Und der Schleier bietet für viele Frauen die Chance, die soziale Differenzierung nach Kleidung zu verhindern und darunter ihre Armut zu verbergen.

Mit der modernen Berufstätigkeit der Frau wurde auch die traditionelle Komplimentarität der Geschlechter in Frage gestellt, die den Frauen als Gegenleistung für ihre Unterwerfung unter männliche Autorität Schutz, Ansehen und materielle Sicherheit versprochen hatte. Frauen erobern nun den öffentlichen Raum und die politische Arena. Dabei hat der Schleier für die Frauen vielfach die Funktion des Schutzes gegenüber sexueller Belästigung, vor allem im Übergang in eine geschlechtsgemischte Gesellschaft. Der private Raum wird quasi in die Öffentlichkeit mitgenommen. Und die unter dem Schleier unsichtbare Frau macht sich erst recht in der Öffentlichkeit sichtbar. In diesem Sinn ist die Übernahme des Schleiers eben kein Ausdruck von Traditionalismus, sondern Ausdruck eines Aufbruchs in die Moderne unter Anknüpfung an die Tradition.

Die Gefahr einer solchen Strategie liegt jedoch in der Unterstützung traditionalistischer Kräfte. So lag eine Paradoxie der iranischen Revolution darin, daß sehr viele Frauen sichtbar und präsent waren. Dabei haben sie selbst den Schleier nicht als Zeichen der Unterdrückung und Segregation verstanden, sondern als Ausdruck von Militanz und der Suche nach einer neuen weiblichen Identität. Ihr Aktivitäten wurden gefördert und unterstützt, aber anschließend mit Gewalt zurückgedrängt. Sie wurden einer allumfassenden moralischen Kontrolle unterworfen und ihre Rechte erheblich eingeschränkt. Rechte, für die die Frauen der arabischen Frauenbewegung seit Jahrzehnten gekämpft hatten.

Diese totalitären Wendungen können jedoch nicht die Widersprüche ungeschehen machen, die in diesen Entwicklungen zum Ausdruck kommen. Genausowenig können Empfehlungen von seiten des Westens, ihn als Vorbild zu nehmen, die Probleme lösen, sondern verschärfen sie vielfach. Es sind eben nicht die gleichen ökonomischen und kulturellen Bedingungen gegeben, und diese Empfehlungen sind selbst Teil und Ausdruck der Dominanzverhältnisse.

Bleibt die Frage, warum der Westen sich durch diese Entwicklungen so ungemein provoziert fühlt, zum Beispiel im Zusammenhang mit den „Kopftuchdebatten“. Psychologisch gesehen gibt es dafür die Erklärung, daß damit Konflikte angesprochen werden, die im Westen selbst verdrängt und abgespalten wurden. Bei der Frage des Geschlechterverhältnisses ist dabei an die Schattenseiten westlicher Emanzipation zu denken, die mit der Idealisierung von Erwerbstätigkeit und individueller Autonomie den Bereich des Privaten und der Beziehungsarbeit entwertet. Die Konsequenz: Doppel- und Dreifachbelastung von Frauen. Oder der Widerspruch zwischen sexueller Befreiung und gleichzeitiger sexueller Gewalt und Ausbeutung. Oder die Frage nach Geschlechtersegregation und Geschlechtermischung. Eine Frage, die im Westen kein Thema zu sein scheint. Tatsächlich hat aber die Frauenbewegung mit gutem Grund getrennte Räume für sich gefordert und vielfach auch durchgesetzt, wie beispielsweise Frauenzentren. In den Schulen wird die Aufhebung des koedukativen Unterrichts diskutiert, und eine Frauenuniversität soll gegründet werden.

Wie verhält sich dies nun zu dem islamischen Konzept der Geschlechtersegregation? So stellt uns die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen Fragen, die wir längst für geklärt hielten.

Insoweit islamistische Bewegungen also Widersprüche in der westlichen Lebensweise widerspiegeln, sind sie in der Tat eine Herausforderung für den Westen. Eine Herausforderung, die, wenn sie angenommen wird und zu einer kritischen Selbstreflexion anregt, zu einer Chance werden kann.

Auszug aus einem Artikel zum Geschlechterverhältnis im Zeitalter der Globalisierung, der demnächst im Sonderheft „Soziale Welt“ zur Globalisierung erscheint.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen