Warten auf Bogomil

Knoblauch, Kalaschnikows und Kultur: Ein Reisebericht aus Bulgarien, das Ende März Schwerpunktthema der Leipziger Buchmesse ist  ■ Von Alexander Andreev

In der Kirche „Die Heilige Sofia“ haben sich die hinterbliebenen Verwandten und Freunde versammelt. Die älteste Kirche in der bulgarischen Hauptstadt ist vor kurzem renoviert worden, und die drei Popen geben sich sichtlich Mühe mit ihrem wohlklingenden, aber unverständlichen kirchenslawischen Gesang. Es riecht intensiv nach Weihrauch, die dünnen Wachskerzen verbrennen uns fast die Finger. Die Trauernden freuen sich bereits auf das anschließende Zusammenkommen in der Wohnung um die Ecke – mit gekochtem Weizen, Brot, Rotwein, Gebäck und Geschwätz – zum Gedenken der Verstorbenen.

Wenig später und nach dem zweiten Glas Rotwein räuspert sich ein alter Freund, um angeblich noch einmal an die Dahingeschiedene zu erinnern. In seinem neulich erschienenen Roman habe er sie, die aufopferungsbereite Kinderärztin, literarisch verewigt. Was folgt, erinnert eher an Eigenwerbung als an die Verstorbene. Wie viele andere aus der Generation der 70jährigen in Bulgarien empfindet auch er die neue Zeit im Land recht zwiespältig. Einerseits darf er frei sprechen und schreiben, kann er wieder stolz auf seine bürgerliche Vorkriegsvergangenheit hinweisen und die bereits verkommenen Erbimmobilien zurückbekommen. Andererseits aber muß er immer wieder mit Sehnsucht an die sicheren Auflagen und an den hohen gesellschaftlichen Status eines Schriftstellers aus den Jahren des real existierenden Sozialismus zurückdenken.

„Ach, hör doch auf!“ unterbricht ihn ein weiterer Trauergast, auch er ein Autor und zugleich politischer Aktivist der regierenden bürgerlich-konservativen Partei UDK. „Anstatt den Kommunismus zu verherrlichen, sollten wir lieber an die nationale Eintracht denken. Nachdem unsere Brüder die Wahl in Makedonien gewonnen haben...“ Der Name „Makedonien“ entfesselt erwartungsgemäß eine aufgeregte Diskussion in der Trauerrunde. Gehören die zu uns oder nicht? Gibt es sie, die makedonische Sprache und die makedonische Literatur? Wird sich die neue Mehrheit in Skopje endlich zu ihren bulgarischen Wurzeln bekennen und dieses Bekenntnis in passender Form politisch und kulturell verarbeiten? Die Verstorbene ist mittlerweile vergessen, jetzt geht es nur um die ewig aktuellen bulgarischen Fragen: die nationale Identität und ihre Grenzen, die Literatur als „patriotisches Erziehungsinstrument“, das Slawentum und die Welt, die Machtspiele der „Großen“ auf dem Balkan.

Am nächsten Abend sitze ich mit einem anderen Schriftsteller zusammen. Wladimir Sarew ist über 50, Chefredakteur einer dicken literarischen Zeitschrift, die übrigens zu der WAZ-Tochterfirma in Bulgarien gehört. Sein letzter und preisgekrönter Roman geht auch auf Spurensuche nach der bulgarischen Identität. Die Reise führt in die mittelalterliche Vergangenheit, als der Mönch Bogomil seine ketzerische Lehre von Bulgarien über Bosnien bis nach Frankreich verbreitete.

Die Fragen des Glaubens seien zur Zeit von enormer Bedeutung für eine orientierungslos gewordene Gesellschaft, erzählt Sarew. Er könne aber der gespaltenen bulgarischen Orthodoxkirche kein Vertrauen mehr schenken („Genau das tat auch Bogomil seinerzeit!“), also interessiere er sich immer intensiver für die subreligiösen Glaubenspraktiken, die spontan das geistige Wohlbefinden der Nation aufrechterhielten. Da ist zum Beispiel die Geschichte mit den von der Staatssicherheit vernichteten Akten zur Tätigkeit der landesweit berühmten Wahrsagerin von Petritsch. Die vor kurzem verstorbene blinde Frau hat tatsächlich jahrzehntelang die bulgarische Prominenz in ihrer Bude empfangen und sogar manche Staatsentscheidung beeinflußt, doch viel wichtiger sei ihre Rolle als geistige Stütze der Armen, Kranken und Verzweifelten gewesen, schwärmt mein Bekannter, der übergangslos zum nächsten brisanten Thema geeilt ist: Da sind doch diese von den Militärs geheimgehaltenen Grabungen im Balkangebirge und die tief unter der Erde vermutete Energiequelle (Magnet? Abgestürztes Ufo? Eine göttliche Botschaft?), die angeblich sogar für die CIA...

Alexander Tomow, auch ein Schriftsteller aus der Generation der 50jährigen, hat neulich einen zeitgenössischen Roman veröffentlicht, der sich mit zunehmenden Kriminalität auseinandersetzt. Nach mehreren Versuchen erreiche ich ihn endlich über eine Handynummer:

„Wer ist da? Ach, ja... Woher, um Gottes Willen, hast du diese Nummer?!“

„Von dir doch. Erinnerst du dich nicht...“

„Schon gut. Du, mir raucht der Kopf. Was gibt's?“

„Na ja, ich wollte mit dir über Literatur sprechen...“

„Soll das ein Witz sein? Ich sitze gerade in einer Konferenz, du weißt ja, wie es um mich bestellt ist... Ruf mich ein anderes Mal an.“

Tatsächlich weiß ich, wie es um ihn bestellt ist: Er ist Mitglied eines wichtigen Fernseh- und Hörfunkgremiums, das sich gerade mit politischen Entlassungen in den Medien beschäftigt. Nicht vor der Mafia, die er in seinen Romanen anprangert, muß sich Tomow mittels Bodyguards, Dienstfahrzeug und geheimer Handynummer abschirmen, sondern vor Journalisten und aufdringlichen Politikern, die sich für oder gegen die Kündigungen einsetzen wollen. Für Literatur ist vorläufig keine Zeit.

Vor der Mafia hat auch Christo Kaltschew keine Angst, im Gegenteil. Der erste (laut Eigenwerbung) Bestsellerautor Bulgariens erzählt stolz in der Öffentlichkeit über seine Kontakte zur Unterwelt, die ihm den Stoff zu den mittlerweile fünf Mafia-Romanen geliefert haben sollen. Zwar fällt es einem keinesfalls schwer, seine Geschichten und seinen Stil („Vulgärer Realismus“, O-Ton Kaltschew) als literarischen Müll abzutun, doch das Massenpublikum ist fasziniert. Und dem Autor kann man eines nicht abstreiten: Im Unterschied zu seinem Altersgenossen Tomow, versucht er nicht, die Mafia dichterisch zu bekämpfen, sondern sie, bieder verpackt, den Hausfrauen zu verkaufen.

Da ist wirklich alles drin, was das Herz begehrt. Goldbekettete, Ferrari fahrende und Armani tragende schwere Jungs, die ihre ebenfalls goldbeketteten Liebchen befriedigen, beschützen und notfalls aus Eifersucht ins Jenseits befördern. Viel Geld, Blut und Männerehre, Rüstungsprodukte aller Art, alte und neue Geheimdienste, Schweizer Konten und Balkan- Connections, sowjetisch-russisch- jüdische Verschwörungen – bis hin zu den Freimaurern und der PLO. „Tötet den General!“ heißt der letzte Teil, der auf den jung-dynamischen Innenminister Bulgariens (und auf seine exzentrische Freundin) anspielt. Der Minister und die schauspielernde Freundin, die im Roman mit ihren echten Namen auftauchen, nehmen es gelassen. Nicht nur die Ganoven, auch sie trinken mal ein Schnäpschen mit dem Autor...

Die selbstgewählte Nähe zur politischen Macht hat vielen bulgarischen Schriftstellern einen schlechten Dienst geleistet. Auch ohne lange geschichtliche Exkurse kann man feststellen, daß diese – übrigens gegenseitige – Anziehungskraft oftmals fatale Folgen gehabt hat. Auch nach der Wende 1989 haben sich die bulgarischen Schriftsteller nicht etwa nach ästhetischen Kriterien, sondern nach politischen Überzeugungen neu organisiert. So waren jahrelang einige der wichtigen Autoren der bulgarischen Nachkriegsliteratur, wie zum Beispiel Jordan Raditschkow oder Waleri Petrow, wegen ihrer Beziehungen zu der Kommunistischen (später Sozialistischen) Partei in „demokratischen“ Kreisen einfach verpönt. Und umgekehrt: Die vielleicht bedeutendste bulgarische Dichterin Blaga Dimitrowa, die als erste demokratische Vizepräsidentin gewählt wurde, stieß auf so viel politische Feindseligkeit, daß sie abtreten mußte.

Mittlerweile haben die schriftstellerischen Lagerkämpfe an eine noch ältere Tradition angeknüpft: an den kurz nach der Staatsgründung 1878 ausgebrochenen Krieg der „Jungen“ gegen die „Alten“. Den durchaus berechtigten Wunsch, die bulgarische Literatur endlich von dem Mief der Vergangenheit zu befreien, verpackte neulich einer der 30jährigen in nicht weniger schlecht riechenden Verbalangriffen: „Eine hysterische Hure, das ist der ,Schriftsteller‘. Ihr kennt sie doch – diejenigen, die es gerne treiben wollen, aber ein ausgedehntes Vorspiel brauchen, bis man ihnen endlich die Höschen runterzieht, nur um mit Verdruß festzustellen, daß sogar die eigene Erektion von deren blödsinnigen Dasein empört ist.“

Ob das ein „maoistischer Revolutionsaufruf“ (wie die „Alten“ meinen) oder einfach der Versuch ist, sich durch Provokationen ins Rampenlicht zu stellen, kann man sehr wohl diskutieren. Tatsache ist aber, daß die „Jungen“, und zwar hauptsächlich die jungen Dichterinnen und Dichter (hier wären solche Namen wie Miglena Nikoltschina, Christin Dimitrowa, Ani Ilkow, Jordan Eftimov, Georgi Gospodinow, Marin Bodakow zu erwähnen), eine lesenswerte, verbittert aggressive Lyrik schreiben, die das Lebensgefühl der neuen Generationen widerspiegelt. Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, exzessive Wutausbrüche sowohl gegen den abgestandenen Knoblauchpatriotismus, als auch gegen die kränkelnde westliche Liberalität, gewagte Sprachexperimente, Weltuntergangsmetaphorik und ästhetischer Nihilismus – das sind nur einige Gemeinplätze der jungen bulgarischen Dichtung, die um und in ein paar auflageschwachen Literaturzeitungen und -zeitschriften entsteht. Der Nachholbedarf in Sachen Kontrakultur, Underground, Feminismus, Postmodernismus und noch einigem mehr ist allerdings meistens mit Sachkundigkeit, mit Selbstwertgefühl, ja mit Talent untermauert. Und der von den „Jungen“ unternommene und für bulgarische Verhältnisse nahezu staatsfeindliche Versuch, dem Publikum die makedonische Literatur in Übersetzung vorzustellen, spricht auch für eine neue Kulturselbstverständlichkeit.

„Ich wünsche nicht eigenartig zu sein, weil ich tatsächlich eigenartig bin.“ Diese Botschaft ihres Propheten, des schwerkranken Ausnahmedichters Konstantin Pawlow, hat die neue bulgarische Dichtung quasi zu ihrem Manifest erklärt. Und ein Beweis dieser Eigenartigkeit ist die Tatsache, daß in den letzten Jahren gerade die jungen Lyriker Bulgariens einen, obwohl immer noch bescheidenen, Zugang zum europäischen Publikum gefunden haben. Auch auf der Leipziger Buchmesse im Frühjahr werden sie wohl diejenigen sein, die das Zeug dazu haben, die deutschsprachigen Leserinnen und Leser zu einer literarischen Entdeckungsreise in das Schwerpunktland Bulgarien einzuladen.