piwik no script img

Vom Nutzen des Pazifismus

Grünen-Sprecherin Antje Radcke muß sich der Basis erklären, die wegen des Jugoslawienkrieges zerstritten ist. Dabei weiß sie selbst nicht mehr, ob sie noch Pazifistin ist  ■ Von Silke Mertins

Die Bürotür ist abgeschlossen. Auf Klopfen hin klappert drinnen ein Schlüsselbund, und Bernd Farcke steckt seine Nase durch einen Türspalt. Aha, kein Feind, er gewährt Einlaß. Auf dem schwarzen Sofa sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen seine Chefin Antje Radcke, Vorstandssprecherin der Bündnisgrünen. Sie knabbert an einem Keks und sagt: „Klasse war ja, daß ich mit den Besetzern zusammen in der U-Bahn gesessen habe. Da haben sie betont an mir vorbeigeguckt.“

Sie steckt sich eine Zigarette an – Davidoff Light, denn „die Schachtel gefällt mir so gut“. Ästhetik geht vor. Raus will sie nicht, weil dort, im Konferenzraum und auf dem Flur der Bonner Parteizentrale, sich rund zwanzig Friedensbewegte breitgemacht haben. Sie wollten mit einem aus dem „Club der Kriegstreiber“ sprechen, und zwar vor der Presse. „Ich habe denen gesagt, wir können gerne diskutieren, aber nicht vor laufenden Kameras“, sagt Radcke. Wenigstens ein Foto, verlangen die Besetzer. „Das mache ich nicht“, lehnt die Parteichefin ab, „die wollen doch nicht reden, sondern nur in die Tagesschau“.

Es klopft. Pressesprecher Harald Händel meldet den Rückzug. Eigentlich hatten die Besetzer über Nacht bleiben wollen. Doch das Vorhaben scheiterte an mangelnder logistischer Vorbereitung. „Die haben uns gefragt, ob wir ihnen Schlafsäcke besorgen können“, sagt Händel.

Die Besetzer sind weg. Händel ist froh. Und stolz. Denn als versucht wurde, mit unpazifistischen Mitteln zu Radckes Büro vorzudringen, hat er nur auf sein früheres Hobby verweisen müssen: Boxen, Halbschwergewicht. „Es kommen nur noch Luschen“, bedauert Radckes Referent Farcke.

Dennoch wird kurz überlegt, ob man sich „zwei Bodies“ kommen lassen soll, falls die schlafsacklosen Nato-Gegner nur die friedliche Vorhut waren. Am Abend soll Antje Radcke zum ersten Mal auf die erregte Parteibasis stoßen. Thema der Veranstaltung im nordrhein-westfälischen Gelsenkirchen: „Frieden durch Krieg?“ Antje Radcke will keinen Begleitschutz. „Es wird schon gut gehen.“

Nun hat sie es eilig. Interviews zu den neuesten Entwicklungen im Kosovo muß sie noch geben und mit Bundesgeschäftsführer Reinhard Bütikofer Absprachen zum grünen Sonderparteitag am 13. Mai treffen. Händel kommt wieder rein. „Denk dran, daß du mir morgen wieder deinen Rücksack gibst, bevor du vor die Presse trittst“, mahnt er. Der Pressesprecher hat es nicht so gern, wenn seine 38jährige Parteichefin einen unordentlichen Eindruck macht.

Dann reicht er ihr noch ein paar E-Mails zum Thema. „Es leuchtet nur wenigen ein, daß ausgerechnet eine rot-grüne Regierung deutsche Militärflugzeuge in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg schickt“, schreibt ein „Nichtmitglied, aber Wähler“. Ein anderer: „Ihr Grünen seid keinen Dreck besser als Milošević.“ Aber es gibt auch Zustimmung. „Danke, daß Grüne gegen den nationalistischen Verbrecher und Mörder Milošević gerichtete Militäraktion mittragen.“ Rund 200 von 51.000 Mitgliedern sind seit Beginn des Krieges ausgetreten.

Radcke seufzt. Die Zerissenheit des grünen Milieus spiegelt auch ihre Seelenlage wider. Nach den ersten Nato-Angriffen vor zwei Wochen lief sie abends durch die wie immer belebte Bonner Innenstadt zu ihrer Einzimmerwohnung nicht weit vom Hauptbahnhof. „Ich bin an den Cafés und Geschäften vorbeigegangen und habe mich wie ein Fremdkörper gefühlt. Ich dachte: Während hier eingekauft wird, führen wir einen Angriffskrieg.“ Radcke guckt aus dem Fenster auf den Büroklotz von gegenüber. Hagel trommelt gegen die Scheiben. „Aber wenn ich die Bilder der Flüchtlinge im Fernsehen sehe, laufen mir die Tränen runter.“

Radcke, die sich immer für eine Pazifistin gehalten hat, muß nun zugeben, daß diese Haltung für den Ernstfall nicht taugt. Daß sie doch nicht die andere Wange hinhalten will. Daß sie durchaus „jemandem eins über die Rübe“ geben würde, der einen anderen schlägt. Und sie möchte sich auch von ihren beiden Kindern, 11 und 14 Jahre alt, die „von den Bildern über die Flüchtlinge tief berührt sind und meine Zweifel unverständlich finden“, nicht sagen lassen müssen, einem Völkermord tatenlos zugeschaut zu haben. Auch wolle sie nicht abstreiten, daß sie immer „eine gewisse Sympathie“ für Hitler-Attentäter empfunden habe. Antje Radcke, keine Freundin von Enthaltsamkeit und Körperertüchtigung, holt sich eine Tasse schwarzen Kaffees und steckt sich noch eine Zigarette an. Ihren Einstieg in die Bundespolitik hatte sich die Hamburger Literaturpädagogin weit weniger turbulent vorgestellt. So gemächlich etwa wie vor drei Jahren, als sie in der Hansestadt die Unbekannte neben Krista Sager war und im Schatten des Medienlieblings und Shooting Stars in die Rolle als Parteisprecherin hineinwachsen konnte.

Heute ist sie die rasante Aufsteigerin. Nach einem kurzen Abstecher bei den Sozialdemokraten trat sie 1993 den Bündnisgrünen bei, wurde Abgeordnete in der Bezirksversammlung, dann Hamburger Parteichefin und steht nun mit der Ostdeutschen Gunda Röstel an der Spitze. Und auch die Medien finden nach ersten Unkenrufen nun Gefallen an der Neuen, die sich anders als viele andere grüne Funktionäre in ihren Statements nicht in politische Worthülsen und Formeln flüchtet.

Während eine politische Krise der nächsten folgte, ist Radcke gar nicht dazu gekommen, sich in der Bonner Parteizentrale häuslich einzurichten. Einziger Schmuck ihres kleinen Büros ist das Bild eines Bauern aus dem eritreischen Hochland – eine Hinterlassenschaft von Vorgänger Jürgen Trittin. Kein Schnickschnack nirgends, nur ein halbes Dutzend Mineralwasserflaschen. „Nach dem Umzug, in Berlin, das wird dann richtig mein Büro.“

Zeit ist knapp. Und nun ist auch noch Gunda Röstel auf Studienreise in den USA. Radcke muß sich allein um die Befindlichkeiten der Basis kümmern und den aufgewühlten Laden zusammenhalten. Nein, nein, das Verhältnis zu Röstel sei gut – professionell, höflich, und wenn man gemeinsam im Taxi zum Bahnhof fahre, rede man sogar über Persönliches: die Kinder, die Doppelbelastung, das schlechte Gewissen. Radckes Bruder paßt an ihren Arbeitstagen in Bonn auf den Nachwuchs der Alleinerziehenden auf.

Im Café auf dem Weg zum Zug nach Gelsenkirchen fallen ihr beim Apfelstrudel mit Vanille-Eis fast die Augen zu. Am Abend zuvor ein Hintergrundgespräch bis Mitternacht, das erste Interview um sieben im Morgenmagazin und auch heute wird es wieder spät. Auf die bevorstehende Diskussion bereitet sie sich „lieber nicht“ vor. „Das macht mich nur nervös.“ Nervös deshalb, weil sie die Basis immer so gut verstehen kann. Oder weil sie die Kritiker mit ihrem harmonisierenden Sicheinfühlen liebevoll erdrückt? „Nein, es hilft weiter, wenn man versucht, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Die Leute spüren, daß man sie ernst nimmt.“

Am Bahnhof wedelt Radckes Referent Bernd Farcke schon mit den Fahrkarten. Eineinhalb Stunden später stehen sie in der City von Gelsenkirchen vor der Gaststätte „Schwarzes Schaf“. Braun- und Beigetöne herrschen vor, Gummibäume, Sportpokale und Vereine fühlen sich wohl. In einem kleinen Saal sind alle Plätze längst besetzt und immer noch wollen Leute in den Raum. Vor der Tür fängt ein RTL-Team die Parteisprecherin ab. Organisator Manfred Wieczorek vom grünen Kreisvorstand Gelsenkirchen ist ein bißchen sauer über die Verzögerung und wird streng. „Antje Radcke gibt draußen noch ein Interview“, sagt er zu den Wartenden. Und angewidert: „Fürs RTL-Nachtjournal.“ Man werde nun aber trotzdem, es sei fünf nach acht, anfangen. Er stellt Radckes Gegenspieler an diesem Abend, Manfred Stenner vom Netzwerk Friedenskooperative, vor, und da kommt auch endlich Radcke durch die Stuhlreihen gedrängelt.

Sie sagt, es sei alles schrecklich mit dem Krieg im Kosovo. Zu viele Fehler seien schon im Vorfeld gemacht worden. Die Grünen hätten immer wieder darauf hingewiesen. Nun seien die Weichen aber längst gestellt. „Wer zu dieser Koalition steht, kann nicht anders handeln, als wir es jetzt tun.“ Und man müsse sich unbedingt überlegen, wie man Menschenrecht und Völkerrecht zusammenbringe. Kein sehr geglückter Einstieg. Kühles Schweigen schlägt Radcke entgegen. Die Wirtin kommt rein und ruft: „Wer kriegt denn hier das Hefeweizen?“

Stenner, der einen Button mit der weißen Friedenstaube am Kragen seiner abgeschabten Lederjacke trägt, sagt, man solle nicht immer mit dem „Totschlagargument Menschenrechte“ kommen, sondern einsehen, daß die Bomben „Milošević in die Hände gespielt haben“. Und im übrigen „glaube ich der Nato kein Wort. Es geht ihnen, wie auch den Grünen, um Machterhalt.“ Applaus.

Antje Radcke betrachtet die künstliche Holzmaserung auf dem Tisch und sagt: „Ich will nicht tatenlos zusehen, wie ein Volk ermordet wird.“ Und aus dem Raum steht jemand seiner Parteisprecherin bei: „Sollen wir etwa warten, bis die Gaskammern dran sind?“ Stenner wird nun richtig wütend. „Das kann man nicht mit Gaskammern vergleichen! Ein paar hundert Tote sind noch kein Völkermord. Macht doch diese Propagandascheiße nicht mit!“ Aufregung im Raum. Die Stimmung kippt.

„Du erwähnst die Verbrechen von Milošević mit einem Halbsatz!“ erregt sich der Grüne Jürgen Pastowski. „Wir sitzen hier auf unseren breiten Ärschen und sollen den Kosovo-Albanern sagen: Haltet still?“ Einige seien wohl ganz zufrieden, daß mit dem Eingreifen der Nato „das alte Feindbild stimmt“. Ein anderer entgegnet: „Es geht hier doch gar nicht um Humanität! Was ist denn mit Israel? Mit der Türkei? Oder mit den Menschenrechtsverletzungen hier bei uns?“

Es wird sich bemüht, die Diskussion wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Jamal Karsli, ein grüner Landtagsabgeordneter, darf nun sprechen: „Ich stehe jetzt hier und rede zum ersten Mal für den Krieg. Vielleicht, weil ich im Kosovo gewesen bin und die Apartheid dort gesehen habe. Die Nato darf jetzt nicht aufhören!“

Wieder reden alle durcheinander. „Das ist die Logik des Krieges!“ Und: „Der Frieden kann nicht herbeigebombt werden!“ Ein Mann steht auf. „Vor zwölf Jahren war ich Zivi, aber jetzt bin ich kein Pazifist mehr, ich bin für den Krieg“, sagt er, und an Stenner gerichtet: „Deine Vorschläge retten jetzt keine Frau, keinen Mann und kein Kind. So wie die Bomben gegen das Dritte Reich notwendig waren, um Hitler zu stoppen, ist es heute auch nötig.“

Veranstalter Manfred Wieczorek will nun auch seinem Unmut Luft machen. „Das war kein fairer Umgang. Ich möchte mich bei Manfred Stenner für die Diffamierungen entschuldigen. Die Vergleiche mit dem Dritten Reich verharmlosen die Hitler-Verbrechen. Die Juden wären vielleicht dankbar gewesen, wenn Hitler sie nur an die Grenze gekarrt hätte.“

Lautstarker Protest, den Wieczorek sich verbittet. Die beiden Gäste dürfen ein Abschlußplädoyer halten. Dann geht es – schnell, schnell, der Zug fährt gleich – zurück nach Bonn. Die Basis bleibt bei Altbier und Pils unter Zinnbechern zurück. Während der über zweistündigen Diskussion haben neben Antje Radcke zwei Frauen das Wort ergriffen. Zwischenrufe eingerechnet. Auch das gehört zur Logik des Krieges.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen