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Weshalb Sex alle (Un)schuld verloren hat

Am Anfang der Bundesrepublik war Sexualität eine Sache, die ohne Schuld und Scham kaum genossen werden konnte. Mittlerweile hat körperliche Lust fast jede Dramatik verloren – und das liegt vornehmlich an der sexuellen Revolution der sechziger Jahre. Ein Essay über Günter Amendt, Camelia, Oswald Kolle, Beate Uhse, Alice Schwarzer, Ralf König und die Love Parade. Teil XIV der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ von Gunter Schmidt

Als ich in das Alter kam, in dem man sich für Präservative interessiert, verschwanden die klapprigen Automaten mit der Aufschrift „Männer, schützt Eure (!) Gesundheit“ gerade aus den Pissoirs der Republik. Man wollte lieber die Jugend schützen als ihre Gesundheit. Das war meine Begegnung mit der sexuellen Restauration in den fünfziger Jahren. Andere traf es härter, schwule Männer zum Beispiel. 1949 wurde nicht der Paragraph 175 der Weimarer Republik ins Strafgesetzbuch der BRD übernommen, sondern ohne Scheu der 1935 von den Nazis verschärfte Paragraph.

Und zum Beispiel Frauen. Eine Familienpolitik, die die kleine Familie, vor allem bei den „besseren“ Leuten, restaurieren wollte, erklärte Erwerbstätigkeit der verheirateten Frau, Kindergärten und Schulhorte zu einem abstoßenden Spezifikum der „kommunistischen“ DDR. Der Hausfrauentypus wurde systematisch gefördert – durch das Austrocknen der Chancen, Kinderaufzucht und Arbeit zu verbinden.

Die offizielle Moral trennten damals allerdings schon Abgründe von dem, was Männer und Frauen dachten und machten. Nach der ersten „Umfrage in der Intimsphäre“, im Gründungsjahr der Republik von Allensbach erhoben, gingen schon damals 90 Prozent der Männer und 72 Prozent der Frauen nicht mehr jungmännlich oder –fräulich in die Ehe; 85 Prozent der Unterdreißigjährigen befürworteten „intime Beziehungen zwischen unverheirateten Menschen“. Ein liberaler Vormärz, denn vermutlich wurden die Einstellungen in den fünfziger Jahren noch einmal kurzfristig muffiger, eine Wiederholung der Allensbacher Befragung ein Jahrzehnt später deutet jedenfalls darauf hin.

Trotz manch aufmüpfiger Gesinnung – die damalige Ahnungslosigkeit in Sexualfragen ist heute unvorstellbar. „Camelia gibt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen“ – stundenlang habe ich als Junge über diesen Satz nachgedacht und konnte sein Geheimnis nicht ergründen; Mädchen wurden offenbar massenhaft von ihrer Regel überfallen und standen entsetzt im Blutbad; Abiturienten diskutierten allen Ernstes, ob ein Taschentuch, um den Penis geschlungen, nicht so nützlich sein konnte wie ein Kondom, dessen Erwerb in der Drogerie Jüngling wie Verkäuferin bodenlos peinlich war.

Desinformation, Verdummung, sexuelle Behinderung waren massiv, einerseits; das Abschieben der Sexualität in den Untergrund aber hatte auch etwas, ereignislos und bleiern waren die Zeiten keineswegs: Kindliche Sexualspiele, bei denen man sich nicht erwischen lassen darf, sind atemberaubender als pädagogisch vor- und nachbereitete Doktorspiele unter den wohlwollenden Blicken der Eltern; Masturbation zwischen Verlangen, Angst, Schuld und Triumph über Verbote aufwühlender als die Nutzung einer Lustmöglichkeit des Körpers, deren man sich bedient oder nicht. Alle Klischees über die Fünfziger sind richtig, der Sex auf dem Rücksitz des Käfers oder im Wald und auf der Heide, und wenn es schneite eben im Schnee. Aber die Rebellion, die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt, auch die Verachtung für deren verknöcherte Scheinheiligkeit, waren Stachel der Lust.

Am Vorabend der Studentenbewegung war jedoch der Widerspruch zwischen offizieller Moral und sexueller Realität junger Erwachsener ins Groteske gewachsen und nicht mehr auszuhalten. Die Achtundsechziger machten die sexuelle Heuchelei öffentlich und fegten sie beiseite. Eine sexualpolitische und –moralische Erschütterung ging durch alle westlichen Industriegesellschaften, und doch gab es deutsche Eigentümlichkeiten. Die Wohlanständigkeit der Eltern kam den StudentInnen vor wie die Wohlanständigkeit von Mittätern und Mitläufern der Nazis, die über Sexualmoral tönten, um nicht über Kriegsschuld und Völkermord reden zu müssen. Ihre Fassade war besonders fadenscheinig.

Deshalb faszinierte sie Wilhelm Reich viel stärker als ihre US-amerikanischen oder europäischen Kommilitonen. Seine „Massenpsychologie des Faschismus“ wurde so atemlos gelesen wie seine sexualpolitischen Werke aus den dreißiger Jahren. In seiner Person verband sich das Nachdenken über bürgerliche Kleinfamilie, autoritären Charakter und Faschismus mit dem Nachdenken über sexuelle Befreiung. Die Botschaft war verlockend einfach: Sexualunterdrückung führt zum Bösen, bis hin zum Faschismus; Sexualbefreiung erlöst vom Übel, von Aggression und Lust an der Unterwerfung.

Sexualität war das Primäre, und darin steckt ihre Mystifizierung. Und diese teilten die Studenten mit ihren konservativen Widersachern: Letztere sahen in der Befreiung den Untergang des Abendlandes und beteten vor dem Bayerischen Kultusministerium in München gegen die Einführung der Sexualpädagogik an den Schulen; erstere erhofften von der Befreiung die Geburt des neuen Menschen. Und beide glaubten einträchtig an die transformative Kraft des Sexuellen.

Was die Studierenden taten, war dabei ganz weltlich. Sie rissen Mauern ein, doch sie schliffen eine Burg, die als Ruine nur noch störte; fegten Verbote beiseite, die in der entwickelten Marktwirtschaft dysfunktional geworden waren, und betrieben ein Stück bürgerlicher Modernisierung. Doch diese Modernisierung, die bei aller „Systemimmanenz“ Ketten sprengte, war nicht nur eine Sache der StudentInnen. Sie war schicht-, generations- und vorliebenübergreifend. Jede Gruppe hatte ihre Agenten: SchülerInnen und StudentInnen Günter Amendt und seine „Sexfront“, der schönste, frechste und unverklemmteste Beitrag der Achtundsechziger zur sexuellen Frage; bürgerliche Erwachsene hatten Oswald Kolle, Proleten Beate Uhse – und Schwule Rosa von Praunheim, der mit seinem Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers...“ hierzulande die zweite Schwulenbewegung zündete.

Kolle und Uhse werden in ihrer Bedeutung unterschätzt: Kolle versuchte behutsam Paaren das Sprechen über Sexualität nahezubringen, und zwar solchen, denen die Studentenbewegung fremd und unheimlich blieb; Uhse besorgte die Kontrazeption in der Republik mit Macht und Umsicht, bis hin zur Entwicklung einer kostensparenden Trockenvorrichtung für ausgewaschene, wiederverwendbare Präservative.

Bis Mitte der siebziger Jahre war der Prozeß der Liberalisierung weitgehend abgeschlossen. Gymnasiasten, Jungen wie Mädchen, hatten innerhalb nur eines Jahrzehnts das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr um vier Jahre vorverlegt. Die Pille, die in den sechziger Jahren auf den Markt kam, trug zu dieser Entwicklung bei. Doch ihr Einfluß blieb vorläufig gering, denn nur jedes fünfte Mädchen verhütete in den siebziger Jahren beim ersten Verkehr mit der Pille.

Aus den Experimenten der Kommunen 1 und 2 entwickelte sich eine neue, solide Lebensform Jugendlicher und junger Erwachsener: die WG. Gewechselt wurde, wichtigste Änderung in dieser Zeit, das Beziehungsparadigma: Es folgte nun, wie dem Soziologen Zygmunt Bauman zufolge das Leben überhaupt, dem Prinzip der Fitneß, nicht mehr dem Prinzip der Gesundheit. Bis dahin galt eine Beziehung als gut, solange sie nicht schlecht war.

Nun aber fragten man und frau sich, ob nicht irgendwo mehr Abenteuer, mehr Nähe, mehr Aufregung warteten. Lust und Drang sich umzusehen, nicht zu rosten, wurden größer und serielle Monogamie zur gängigen Verkehrsform. Der Single, ob als Held oder Heroine, avancierte zur neuen Figur – in der Phantasie; in der Realität waren sie meist unglücklich, auf den Nächsten oder die Nächste wartend, sexuell eher mißgestimmt.

Ende der siebziger Jahre legte sich der Blues über Liebeslandschaften. Sex und Beziehungen hatten sich geändert, aber das Glück wollte sich nicht einstellen. Der Abgesang auf die sexuelle Befreiung wurde am schönsten in Sexualität Konkret intoniert. „Erotik ist nur noch Alleinsein“, hieß es, und Bob Dylan nuschelte im Hintergrund. Tieftraurig begann ein wichtiger Prozeß: die Entmystifizierung der Sexualität von ihrer Überfrachtung.

Doch vorher gab es noch etwas anderes zu erledigen, und das nahmen die Frauen in die Hand: die Zivilisierung des freien Liebesmarktes. Feministinnen setzten auf den liberalen Diskurs der Sechziger den Selbstbestimmungsdiskurs der späten siebziger und achtziger Jahre. Sie thematisierten sexuelle Herrschaft und Gewalt von Männern und trugen ein Thema nach dem anderen in die Öffentlichkeit: Vergewaltigung, Prostitution, Kindesmißbrauch, Pornographie, sexuelle Belästigung und – allen voran Alice Schwarzer mit ihrem „Der kleine Unterschied“ – Machtausübung in der alltäglichen und herkömmlichen Heterosexualität.

In der Umgestaltung der Heterosexualität war der Feminismus schließlich ein erfolgreiches Projekt. Die Gewaltdebatten brachten einen Sensibilisierungsschub bei Frauen, aber auch bei Männern gegenüber dem Zwang in der Sexualität hervor – und die Verhandlungsmoral. Beurteilte die alte Moral sexuelle Akte – Masturbation, nichtehelichen Sex, Homosexualität – weitgehend unabhängig vom Kontext als „böse“ oder „verfehlt“, so kommt es heute nicht mehr darauf an, was zwei (oder mehr) Partner miteinander machen, sondern daß es vereinbart ist: ratifizierter Sex. Ob hetero- oder homosexuell, oral, zart oder ruppig, bieder oder raffiniert, von hinten oder von vorne, ist dabei moralisch ohne Belang.

Lange glaubte ich, Verhandlungsmoral gründe sich auf einen rührenden Glauben an eine sexuelle Vernunft. Aber konfrontiert sie uns nicht nur mit unserem naiven Glauben an die Irrationalität der Lust? Ehrwürdige Bilder und Konzepte unserer Kultur (Sexualität als Trieb und Wildheit, als unbändige, tabusprengende und transformative Kraft, als ewiges Drama, als Verstrickung auf Leben und Tod) goutieren wir selig im Kino, wie jüngst in „Titanic“. Doch wissen wir längst, daß sie untergegangen sind wie jenes Schiff. Der Mythos von Verdammung und Erlösung durch Sexualität, dem auch die Studentenbewegung anhing, löst sich auf. Nicht mehr „Trieb“ ist eine Metapher für Sex, sondern die Suche nach Spaß; nicht Befriedigung im Sinne von Ruhe oder Bedürfnislosigkeit ist Ziel, sondern das Spiel mit Erregungen, das Sammeln von Empfindungen.

Das bürgerliche Drama der Sexualität, das die Psychoanalyse unverdrossen abdrischt, wird zunehmend zu einer nostalgischen Reminiszenz. Intelligente Pornographie, zum Beispiel die schwulen Comics von Ralf König, die auch in Heterokreisen gern gelesen werden, inszeniert das Drama des Sexuellen nur noch als Groteske und führt es so ad absurdum. „Ein bißchen Rauchen, ein bißchen Trinken, ein bißchen Sex“ – so das Credo der Berliner Love-Parade-TeilnehmerInnen.

Und so scheint es, als sei die Sexualität gründlich entrümpelt: vom Katholizismus, vom Patriarchat und von der Psychoanalyse. Nicht wenig für fünfzig Jahre, fast eine Erfolgsgeschichte.

Gunter Schmidt, 61, ist Professor für Sexualwissenschaft an Hamburgs Uni. Jüngstes Buch: Sexuelle Verhältnisse, Rowohlt, Reinbek 1998, 160 S., 12,90 Mark

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