: Der Siegeszug der Multiknolle
Nur Wolfram Siebeck hat sie richtig lieb, schwärmt von ihrer Vielfalt und Delikatesse als Gratin. Die Deutschen haben sie lange verachtet – auch wenn sie sie tonnenweise verspachtelten: die Kartoffel. Heute dominiert die Hochleistungsknolle, mit der sich nicht nur Chips und Pommes herstellen lassen, sondern auch Papier und Wegwerfbesteck. Schon schwärmen Geningenieure vom Erdapfel als Brutreaktor ■ Von Jörg Altekruse und Manfred Kriener
Dem Botaniker Raoul Caombes kam 1749 das große Kotzen: „Dies ist in aller Augen das abscheulichste Gemüse, doch das Volk ernährt sich davon.“ Philosoph Friedrich Nietzsche war der festen Überzeugung, daß übermäßiger Knollengenuß schnurstracks in den Alkoholismus münde. Andere Zeitgenossen wollten das „verdummende Gemüse“ allenfalls als Schweinefutter durchgehen lassen. Die Kartoffel war nicht nur unbeliebt, sondern gehaßt und zuweilen sogar gefürchtet.
Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. verdonnerte die preußischen Bauern zwangsweise zum Anbau und drohte im Falle der Unbotmäßigkeit mit harten Strafen. Vergeblich. Seine Untertanen waren fest überzeugt, die Knolle mache aussätzig. Als nichts mehr half, mußten Soldaten die Felder bewachen, weil die Bauern die bedrohlichen Erdfrüchte heimlich ausbuddelten und entsorgten.
Mißtrauen gegen ein neues Nahrungsmittel ist durchaus üblich. Im Falle der Kartoffel, die im 16. Jahrhundert aus Südamerika nach Europa kam und sich im 17. und 18. Jahrhundert langsam ausbreitete, war die Angst vor ihrem Gift keinesfalls nur irrationaler Spuk. Die Erdfrucht zählt zu den Nachtschattengewächsen und ist mit der Tollkirsche verwandt. Alle grünen Pflanzenteile, auch die Knollenpartien mit grüner Einfärbung, enthalten das Glykoalkaloid Solanin. In der schlechten alten Zeit war der Giftanteil noch deutlich höher und konnte tatsächlich schnell zu Hautausschlägen führen, selbst wenn man nicht so blöd war und statt der Knollen die grünen Teile kochte, wie es dereinst der Leibkoch von Königin Elizabeth I. bei seinem ersten Versuch getan haben soll.
Schnell bekam die Kartoffel Imageprobleme als „Speise der Armen“. Sie war (und ist) billig und durch ihren hohen Stärkegehalt sehr sättigend. Und sie erwies sich auf den nährstoffarmen Böden als sechsmal so ertragreich wie Getreide. Friedrich Engels stellte in „Die Lage der arbeitenden Klassen“ enge Zusammenhänge zwischen Kartoffelgenuß und sozialem Rang her. Auf der „tiefsten Stufe“, schrieb er, bleibe den Arbeitern „nur die Kartoffel“ als Nahrungsmittel.
Heute macht die Ackerfrucht ganz andere Probleme: Viele gute alte Sorten verschwinden. Die Chips- und Pommesindustrie klopft den Takt und gibt die Richtung vor. Moderne Kartoffelernte sieht so aus: In der Lüneburger Heide holen ukrainische Erntehelfer für den US-Konzern Pepsi Cola deutsche Knollen aus der Erde, die für eine Bukarester Pommesfabrik bestimmt sind. Aus den fingerhutgroßen Urknollen der wilden Kartoffelpflanze sind immer größere Turbosorten gezüchtet worden.
Gernot Riedel, Gärtnermeister aus Bremen, baut in seinem Garten noch vierzig verschiedene Kartoffeln an. Einmal im Jahr lädt er Freunde ein, setzt große Töpfe aufs Feuer und probiert andächtig „Odenwälder Blaue“ und andere urtümliche Sorten. Im amtlichen Sortenregister sind viele der alten Knollen inzwischen gestrichen, sie dürfen nicht mehr zu kommerziellen Zwecken angebaut werden. Nur noch als Hobby, wie bei Riedels.
Der große Überflieger auf dem Kartoffelmarkt ist die „Bintje“. Die holländische Allzweckwaffe hat sich in Europa inzwischen einen Marktanteil von vierzig Prozent erobert. Helles Fleisch, flache Augen: Aber vor allem ihre hohe Chip- und Pommestauglichkeit macht sie zur Kartoffelkönigin. Bei den Chips ist nicht der Geschmack, sondern die Farbe entscheidend. Die fritierten Knabberdinger müssen hell und freundlich sein, dürfen nicht verbräunen oder bitter werden, nicht zuviel Fett aufnehmen. Bintje und andere Hochleistungssorten sind dafür ideal, und sie sind ertragreich, wenn kräftig gedüngt und gespritzt wird. Anfälligkeit gegen Schädlinge ist die Kehrseite der Bintjisierung.
An die dreitausend Kartoffelsorten haben die Forscher des „Centro International de la Papa“, des weltgrößten Kartoffelinstituts, im peruanischen Lima inzwischen katalogisiert. Dreißig Varianten sind in Deutschland derzeit im Handel, in die Supermärkte kommen meist fünf bis sechs. Botaniker durchstreifen südamerikanische Wälder auf der Suche nach seltenen Baumkartoffeln und anderen Ursorten. Die letzte Chance, dieses genetische Reservoir noch zu retten.
Selbst in Lateinamerika, der Heimat der Kartoffeln, beziehen die Bauern zunehmend lizensierte Saatkartoffeln aus Europa, die sie jedes Jahr neu bezahlen müssen. Das Setzen von Kartoffeln aus der Vorjahresernte ist verboten und wird bestraft. Um solche Ungesetzlichkeiten zu vermeiden, wollen amerikanische Saatgutkonzerne die Kartoffeln mit einem Genschalter ausstatten. Sie wachsen dann nur noch mittels Ausbringung eines bestimmten Aktivierungsmittels, das teuer bezahlt werden muß.
Seit einigen Jahren gehört die Kartoffel zu den „Haustieren“ der grünen Gentechnik. Die maßgeschneiderte Superknolle soll alle guten Eigenschaften vereinen. Nach dem Baukastenprinzip will man aus vierzig „wertbestimmenden Merkmalen“ der Kartoffel die ultimative Normknolle konstruieren. Derzeit soll vor allem Stärkegehalt und –zusammensetzung verändert werden, damit die Kartoffel als Stärkelieferant für die Verpackungs- und Papierindustrie weitere Marktanteile gewinnt. Folien, Wegwerfbesteck oder Einkaufstütchen aus Stärke – die Kartoffel macht's.
Die neue Karriere der Kartoffel hat gerade erst begonnen. Selbst als Brutreaktor für Arzneimittel ist sie im Gespräch. Mensch ißt seinen Kartoffelbrei und ist gleichzeitig gegen Kinderlähmung geimpft. Essen? Ja, essen kann man die Kartoffel auch noch. Das tun wir sogar öfter, als wir es ahnen. Fein zermahlen und gesiebt, landet die Kartoffel in mehr als 20.000 Nahrungsmittelprodukten. Wer aber Madame Linda oder Sieglinde noch selbst aufs Feuer setzt, sollte unsere kleine Kartoffelkunde lesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen