■ Nebensachen aus Moskau: Puschkin ist überall und immer mit uns
In Rußland war der Dichter immer mehr als nur ein Dichter. Gewissen, Schulmeister oder gar Gegenregierung. Nur einer widersetzte sich der pädagogischen Mission und ward fortan vom Volke geliebt wie kein zweiter. Alexander Puschkin. Sein Name wurde zum Synonym für nationale Verständigung. Gestern erreichte er das biblische Alter von 200 Jahren. Doch wer glaubt, er sei gestorben, irrt.
„Puschkin ist überall und immer mit uns“, behauptet noch der schlichteste Charakter. Seit Monaten zählte das Fernsehen die Tage bis zum Geburtstag. Auf den Ausfallstraßen ruft ein Plakatzyklus ästhetische und ethische Leitmotive im Abstand von hundert Metern in Erinnerung: Liebe, Schönheit, Leidenschaft und Ehre. Letztere versinnbildlicht eine Pistole, durch die der krankhaft Eifersüchtige im Duell mit 37 Jahren von der Hand eines Ausländers – wohlgemerkt – zu Tode kam. Die Botschaft verstehen auch Rußlands Neue Russen, denen der Leumund nachsagt, der Kultur weniger verbunden zu sein. Puschkin bestätigt, was Nikolai Gogol, Schöpfer des Puschkinkultes, schon vor 150 Jahren von seinem Freund behauptete: Sein Russischsein transzendiert alle Unterschiede.
Wen wundert's da, wenn die Politiker um seine Gunst wetteifern. Zwei Reliquien, eine Handschrift und eine Ikone vom elterlichen Gut, befinden sich noch in Privatbesitz. Eine halbe Million Dollar sollen sie kosten. Wer wird sie dem Volke schenken? Die Kommunistische Partei oder Präsident Jelzins Administration, die um die Wette bieten? Wer sie ersteigert, erweist sich nicht nur als besserer Patriot, er eignet sich vor allem die Totemkräfte des Genies an. Das ist es, was zählt. Rußland ist zutiefst abergläubisch – wie sein begabtester Sohn – Puschkin.
Jeder ist dem Wortmagier von Kindesbeinen an ausgeliefert. Die Kleinen wachsen mit seinen phantastischen Märchen auf. Die Poesie ist Balsam und Ersatz für die Prosa, in der zu leben die Russen sich schwertun. Der Heranwachsende blättert verstohlen in der elegischen und nicht selten frivolen Liebeslyrik. Mit der Heldin Tatjana im Versroman „Eugen Onegin“ schafft der Chauvi Puschkin ein kräftiges Weib, das Goethes Gretchen, Ideal eines deutschen Oberlehrers und Haustyrannen, um Köpfe überragt.
Die künstlerische Avantgarde der 20er Jahre versuchte, „Puschkin aus dem Schiff der Gegenwart zu schmeißen“. Sie scheiterte. Auf dem Höhepunkt der Stalinschen Säuberungswelle 1937 erkor ihn die Macht zu dem Modell des „neuen Sowjetmenschen“. Mehr Rotarmisten als Bourgeois lasen den Klassiker!, meldeten die Literatur-Stachanows.
Puschkin war schlichtweg ein Ästhet. In seinem Oeuvre findet jeder, wonach er sucht: Der Dissident entdeckt den Dissidenten und Freiheitsanbeter. Der Patriot den Etatisten und Monarchisten. Kosmopoliten die kulturelle Aufgeschlossenheit. Atheisten den ersten Gotteslästerer, Frauen den unübertroffenen Don Juan. Alkoholiker reklamieren melancholisch „Ich trink allein ...“ Obdachlose fühlen sich nur bei ihm heimisch.“ Jeder huldigt der eigenen Ikone. „Man reißt ihn in Stücke“, schreibt der Kritiker Lew Rubenstein, „und bleibt als Ganzes erhalten, weil er kein Monolith ist.“ Hier liegt das Geheimnis seiner Vergötterung und Heiligsprechung. „Er ist das Brot, das wir essen, der Wein, den wir trinken“, meinte ein dichtender Epigone nüchtern. Klaus-Helge Donath
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