: Subjektiv ungerechtfertigt, rechtlich zulässig
Immer wieder schlagen vor allem Berliner Polizisten im Dienst blindwütig zu. Allerdings: Die wenigsten Anzeigen und Disziplinarverfahren wegen Körperverletzungen seitens prügelnder Beamter führen anschließend auch zu Verurteilungen – wie die Statistik zeigt ■ Von Otto Diederichs
Nach der letzten „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ fand Berlins Polizeipräsident Hagen Saberschinsky in seiner Post einen nicht alltäglichen Brief. Darin schilderte ein entsetzter Bürger folgenden Vorfall: „Eine Frau fiel dicht neben mir auf die Straße. Für einen Augenblick sah ich ihr flehendes und entsetztes Gesicht, dann droschen mehrere Polizisten in unglaublicher Brutalität auf die Wehrlose ein. Einem Polizisten zerbrach unter der Wucht der brutalen Attacke der Schlagstock. Die Splitter flogen wie kleine Geschosse durch die Luft. Einer der entmenschten Männer schlug wie ein Bessener auf die am Boden liegende Frau ein und brüllte: ,Da hast du es, du Sau!‘ “. Lediglich ein Fall aus einer Dokumentation der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Und ein Vorfall, der bis heute nicht geklärt ist.
Berlin hat seinen Ruf als Knüppelparadies wohl nicht ganz zu Unrecht. In keinem anderen Bundesland werden vergleichbar viele Ermittlungsverfahren gegen Polizisten geführt. Gewalt in Uniform ist in der Hauptstadt ein reales Problem.
Mehr als 25 Strafanzeigen wegen Körperverletzung im Amt wurden nach jener 1.-Mai-Demonstration gegen Berliner Polizisten erstattet. Für den Ersten Kriminalhauptkommissar Klemmer eine bescheidene Zahl. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, sagt er, „hatten wir nach jedem 1. Mai Größenordnungen bis 250“. Klemmer ist Leiter der zwei Kommissariate „Amtsdelikte“, die sich im Landeskriminalamt Berlin mit Vorwürfen gegen die eigenen Kollegen befassen. Vergleichbare Dienststellen gibt es in allen Bundesländern.
Zuständig sind sie für das gesamte Behördenpersonal, doch überwiegend richten sich die eingehenden Anzeigen gegen Polizisten. Nicht nur wegen Körperverletzung, auch Strafvereitelung, Verfolgung Unschuldiger, Verletzung von Dienstgeheimnissen und ähnliches gehören dazu. Zu rund 60 Prozent aber geht es um Körperverletzungen. Davon wiederum sind in neun von zehn Fällen Polizisten die Beschuldigten. Die nächstgrößere Gruppe (5 Prozent) bilden Lehrer. In Zahlen heißt das, daß gegen Berliner Polizisten pro Jahr etwa 1.000 Anzeigen (1996: 928, 1997: 1.027, 1998: 1.004) erstattet werden. Anfang der neunziger Jahre waren es rund 600 (1991: 627, 1992: 646).
Die Ursachenforschung für den Anstieg oder auch Vergleiche mit anderen Ländern sind schwierig. Öffentlich zugängliches Material gibt es kaum. Somit ist man auf ältere Einzelinformationen angewiesen. Danach kam es in den Jahren 1980 – 88 in Berlin zu 4.552 Verfahren. In Hamburg waren es zwischen 1984 und 1987 insgesamt 668 und in Baden-Württemberg 1981 – 85 lediglich 64 Fälle. Die Zahlen sind nur bedingt kompatibel, legen jedoch nahe, daß in Berlin überproportional oft zugelangt wird.
Nach der Strafanzeige beginnen die Ermittlungen meist damit, daß die Anzeigenden zur Zeugenaussage geladen werden. Gleichzeitig werden relevante Unterlagen wie Dienst- und Einsatzpläne, eventuelle polizeiliche Vorgänge und ähnliches ausgewertet. Nach Aussagen Klemmers reicht das in Berlin schon häufig aus, um den beschuldigten Beamten zu identifizieren. In der Mehrzahl aller Fälle (80 Prozent) seien die Geschädigten alkoholisiert gewesen und hätten zuvor Widerstand geleistet. „Es gibt keine Körperverletzung ohne Vorgeschichte.“
Aus polizeilicher Sicht sind das relativ einfach zu klärende Fälle, da die beschuldigten Beamten meist namentlich bekannt sind. Nach Demonstrationseinsätzen sieht es allerdings anders aus. Die Chance, hier die prügelnden Beamten festzustellen, sagt selbst Klemmer, ist „relativ schlecht“. Um gleich jedem Vorwurf der Kumpanei zu begegnen, gebe man den Vorgang „nackt zur Staatsanwaltschaft“. Das heißt, alle Ermittlungsschritte werden vorher mit dem Staatsanwalt abgestimmt. Nach dem letzten 1. Mai wertet man nun auch 32 Videoaufzeichnungen von TV-Sendern aus. Auch der Polizeizeichner wurde eingeschaltet, um Phantomzeichnungen anzufertigen. Allzu große Hoffnungen setzt man darauf aber auch nicht.
Vor Gericht landen denn auch weit weniger Fälle. Angeklagt wurden 1996 nur 26, verurteilt wurden Beamte lediglich in 5 Fällen (1997: 14/6, 1998: 12/5). Die Zahlen sind interpretierbar. Der einen Seite gelten sie als Beleg für Kumpanei und Korpsgeist in der Polizei. Für die andere sind sie der Beweis für massenhafte Falschanschuldigungen. Klemmer selbst deutet sie als Ergebnis objektiver Ermittlungen.
Fatal daran ist, daß alle irgendwie recht haben. Wenn Polizisten ihre Aussagen aufeinander abstimmen, was immer wieder vorkommt, sind auch Klemmers 20 Beamte, die alle freiwillig im Kommissariat arbeiten, häufig am Ende. Andererseits kann polizeiliche Gewaltanwendung für die Betroffenen subjektiv ungerechtfertigt, rein rechtlich aber zulässig sein. In diesem Spannungsfeld liegt das Dilemma.
Wie man es auch deuten mag, für Polizisten ist die Bilanz positiv. Trotzdem heißt Klemmers Dienststelle im Jargon die „Beamtenmord-Kommission“. Parallel mit den Strafermittlungen nämlich wird die Disziplinarstelle der Polizei eingeschaltet. Damit ist der Vorgang zugleich Ausgangspunkt für disziplinarische Vorermittlungen. Diese ruhen zwar bis zum Ende des Verfahrens, haben aber zur Folge, daß die betroffenen Beamten während dieser Zeit nicht befördert werden können.
„Einem der Polizisten zerbrach unter der Wucht seiner brutalen Attacke der Schlagstock. Die Splitter flogen wie kleine Geschosse durch die Luft.“
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