: Die Landschaft des Jahres
Der Böhmerwald liegt in drei Ländern. Das Grenzgebiet zwischen Ost und West ist Modellregion der „Naturfreunde Internationale“ ■ Von Christel Burghoff
Jenseits der Grenze in Tschechien heißt er umava, diesseits zählt er zum Bayerischen Wald und in Österreich zum Mühlviertel: Den Böhmerwald scheint es eigentlich nur als Legende zu geben. Als ein sagenträchtiges Relikt aus Vorkriegszeiten, das in Heimatverbänden und Folklore gepflegt wird und von Adalbert Stifter im Hochwald-Epos auf immer verklärt und verewigt wurde. Doch es gibt diesen Wald: Er überschreitet die drei Ländergrenzen, er ist eines der größten europäischen Waldgebiete mit alten, urwaldähnlichen Beständen und großflächigen dunklen Tannenwäldern, die sich auf Höhen von mehr als 1.400 Meter hinaufziehen. Während der vergangenen 50 Jahre dämmerte er mehr oder weniger entvölkert als eine abgeschiedene Grenzregion zwischen Ost und West dahin.
Seit kurzem ist der Böhmerwald nun die „Landschaft des Jahres 1999/2000“. Dies verdankt er der „Naturfreunde Internationale“ (NFI), die nach Bodensee und Neusiedler See, der Region Eifel-Ardennen, Odermündung, Lesachtal und Furka-Grimsel-Susten und zuletzt der Maas-Region nun wieder eine grenzüberschreitende Region prämierte.
„Eine Landschaft, die verbindet“ ist denn auch das Motto, mit dem über tausend Naturfreunde im Juni ins Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Österreich anreisten. Sie kamen, um zu feiern und zu wandern, und natürlich auch, um diese Landschaft bekannt zu machen und damit zu fördern.
„Wir wollen den Böhmerwald als eine europäische Region installieren“, sagt Herbert Brückner, der Präsident der NFI. Brückner, ehemaliger Gesundheits- und Umweltsenator der Stadt Bremen, betont die „europäische Orientierung“ des traditionsreichen Vereins, der der Arbeiterbewegung entstammt: „Nach Beendigung des Ost-West-Konfliktes streben wir ein Europa an, das durch Regionen und nicht durch nationale Konkurrenzen geprägt ist.“ Aber noch ist die Grenzsituation Realität. Die tschechische Volkstanzgruppe tanzt an diesem sonnigen Festtag um Schlagbäume herum, an denen Grenzer den Paß verlangen. Noch endet der Zug, der die Naturfreunde aus dem Osten zum Festplatz gebracht hat, im Niemandsland: am Schlagbaum von Nové Údoli, mitten auf der grünen Wiese der grünen Grenze zwischen Deutschland und Tschechien. Und merkwürdig genug: Zwischen das Wandervolk aus dem Westen, das in Begleitung örtlicher Blasorchester und Trachtenträger vom bayerischen Haidmühle heraufgekommen ist, drängen sich die Kunden des Duty-free-Shops. Dieser kleine Laden setzt auf den paar Metern Gelände zwischen Schlagbaum und Schlagbaum Zollfreies um.
Normalerweise sind die Käufer hier ganz unter sich. Und sie kommen massenhaft. Jedes Wochenende steuern an die 4.000 Menschen die grüne Grenze an, um sich mit Zigaretten, Whisky und Parfüm einzudecken. So volkstümlich die Festveranstaltung an der grünen Grenze inszeniert ist, so kurios wirkt sie auch.
Die Forderung dieses Tages ist – von Ost wie von West –, den Bahnbetrieb wieder wie einst bis nach Passau an der Donau aufzunehmen. Im Westen wurden die Gleise längst abgetragen. Statt dessen legte man Rad- und Wanderwege an. Was natürlich begrüßenswert ist, aber im Sinne einer regionalen Orientierung doch zu überdenken ist, wie die Naturfreunde meinen.
Die Grenzregion ist politisch und wirtschaftlich in Bewegung. Als 1990 der Eiserne Vorhang fiel, erklärte Tschechien den östlichen Böhmerwald zum Nationalpark. „umava“ – „Rauschen“, wie es auf deutsch heißt. Eine Hommage an das Waldesrauschen in dem riesigen Gebiet samt seinen klaren Bächen, Flüssen, Triftkanälen und Moldaustauseen. Wie auch in der ehemaligen DDR hatten hier Naturschützer die politische Wende genutzt, um den spärlich bewohnten Naturraum unter Schutz zu stellen. Denn einzig die Natur hatte von den politischen und menschlichen Katastrophen, von Grenzlage und Vertreibung der ehemaligen sudetendeutschen Bevölkerung dieser Region profitiert. Die Natur erholte sich und fiel in einen Urzustand zurück.
Ein spürbarer touristischer Aufschwung war die Folge der Einrichtung des Nationalparks. Nun steht diese Region unter dem Zeichen der EU-Erweiterung: Tschechien ist einer der neuen Beitrittskandidaten und damit auch ins Blickfeld westeuropäischer Zuwendungen und der unterschiedlichsten Interessen gerückt.
Das Interesse der Naturfreunde an dieser Region ist seit der ersten Wahl einer „Landschaft des Jahres“ Programm: Sie wollen eine „nachhaltige Entwicklung“ ankurbeln, und zwar vor allem durch sanften Tourismus. „Wir werden hier mithelfen“, verspricht Manfred Pils, der Generalsekretär der NFI, „die nötigen Strukturen aufzubauen, damit die Vorbeitrittshilfen der EU für die Infrastruktur- und Umweltmaßnahmen abgerufen werden können.“
Wie die anderen prämierten Landschaften gilt ihnen auch der Böhmerwald als ein „ökologischer Baustein für ein neues Europa“. Und dafür tut man, was man kann: Die Präsidentenkonferenz der Naturfreunde-Landesverbände vergeben alle zwei Jahre ihr Prädikat an eine grenzüberschreitende europäische Region. Projekte des sanften Tourismus werden gefördert, man wirbt in der Bevölkerung für ökologische Standards, sucht die Diskussion mit Politikern und Verbänden, betreibt Publicity für die Region und organisiert Goodwill-Aktionen.
Weil den Naturfreunden für nachhaltige Entwicklungsziele dieser Größenordnung natürlich die finanziellen und politischen Mittel fehlen (der Verband zählt europaweit 600.000 Mitglieder und finanziert sein Engagement nahezu ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen), wird mit der „Landschaft des Jahres“ Lobbyarbeit vor Ort für die grüne Sache gemacht.
Doch mit der Ökoidylle wird es nicht einfach werden. Örtliche Politiker drängen auf Straßenbau und weitere Grenzübergänge für Pkws. Sie wollen Brücken im Stauseenbereich der Moldau, wo heute noch nostalgische Fähren verkehren, sie wollen den Wald zerschneiden. Ob aus ökonomischen Gründen oder nur als Reflex auf einen weißen, unberührten Fleck auf der Landkarte, wird nicht recht deutlich. Bürgermeister Walter Springer aus dem österreichischen Schlägl argumentiert mit den Bedürfnissen der „sanften“ Touristen: „Natürlich bin ich für den Ausbau des sanften Tourismus, aber dafür braucht es moderne Straßen.“ Den Einwand, daß sanfter Tourismus in betonierten Landschaften nicht funktioniere, läßt er nicht gelten: „Wir würden uns etwas verbauen, wenn wir keine Straßen bauten“, so Springer.
Im Dreiländereck sind Straßen ohnehin ein Reizthema: Sie normalisieren den Grenzverkehr, klar. Aber sie holen auch den motorisierten Verkehr in die Idylle und die Menschenmassen, die wie im bayerischen Haidmühle einen Duty-free-Shop auf der grünen Wiese ansteuern. Und jenseits der Grenze in Tschechien herrscht an den Straßen Goldgräberstimmung: Im Grenzbereich verwandelten sich Straßenmeilen zu Bordellzonen. Prostituierte säumen die Straßen, und zahllose Nightclubs und noch mehr Hinweisschilder auf Nightclubs in Seitentälern und in den Wäldern. An Verkaufsständen werden Billigprodukte umgesetzt, allen voran Gartenzwerge, riesige Gartenzwerge. Wer hier langfährt, erfährt auch, was er vielleicht nie so genau wissen wollten, wie gut nämlich Puff- und Gartenzweg-Kultur harmonieren und sich im Freien prächtig entfalten.
„Es gibt hier zwei Ideologien“, sagt Abt Martin Fellhofer vom österreichischen Stift Schlägl zu den unterschiedlichen Interessen. Zwar ist der Abt kein Freund des Straßenbaus, aber Stift Schlägl ist der größte private Waldbesitzer im Dreiländereck. Und dem Hochwald geht es, was man ihm nicht so ohne weiteres anmerkt, längst an die Substanz: Der Borkenkäfer frißt sich hinein. Nicht bloß im angrenzenden Nationalpark Bayerischer Wald hat er inzwischen Hügel kahlgefressen und so den Volkszorn heraufbeschworen – er macht sich auch im Böhmerwald an die Arbeit. Erst befällt der Borkenkäfer einzelne Bäume, und dann breitet er sich kreisrund im dichten Wald aus wie eine Krankheit auf dem Kopf. Von weitem hält man die befallenen Stellen bloß für Felsen. Kommt man näher, dann sieht man tote Bäume. Längst hat der Käfer seine natürliche 1.000-Meter-Marke überstiegen und sucht auch die höheren Lagen heim. Klimaerwärmung und saurer Regen machen ihm die Arbeit an geschwächten Bäumen leicht. „Es erfüllt mich mit tiefer Depression“, sagt Abt Fellhofer, „wenn man einen Wald sterben läßt mit der kurzsichtigen Argumentation, daß in hundert Jahren alles wie neu sein wird. Die Leute haben auch jetzt ein Recht darauf, durch einen Wald zu gehen, der nicht totgefressen ist.“
Auch der Abt argumentiert mit touristischen Bedürfnissen, um seine Forderungen zu untermauern: Er will die Bedrohung durch die Käfer aus der Waldwildnis verbannen, den Borkenkäfer selbst in den Kernzonen der Nationalparks bekämpft wissen. Eine Forderung allerdings, die mitten ins Herz der Schutzidee trifft. Denn die internationalen Vorschriften sehen vor, daß sich der Mensch zumindest aus den Kernzonen heraushält, damit die Natur zu ihren natürlichen Abläufen zurückfindet. Nicht bloß der Borkenkäfer selbst, sondern auch der Konflikt um den Schädling droht Naturschutzerfolge aufzuweichen: Wo selbst in seine Kernzonen eingegriffen wird, besteht ein Nationalpark nur mehr auf dem Papier.
Im Nationalpark Bayerischer Wald verweigert sich die Verwaltung noch der geforderten Korrektur der Natur, jenseits der Grenze, im Nationalpark umava, hat man allerdings bereits nachgegeben: Der Baumschädling Borkenkäfer wird jetzt auch innerhalb der Kernzone bekämpft.
Auf den Höhen des Waldes scheint die sanfte Welt indes in Ordnung. Diesseits und jenseits aller drei Grenzen sind die historischen Wanderwege ausgewiesen, niemand steht mehr Wache, um Pässe zu kontrollieren, die Grenzübergänge sind tagsüber offen, kein Schlagbaum, nirgends. Es läßt sich gut auf Adalbert Stifters Spuren wandeln. Dreisessel, Plökkenstein und Stifters „Auge Gottes“, der hochgelegene Plöckensteiner See, sind wie eh und je begehrte Wanderziele.
Die Angebote zum sanften Tourismus in der Region erfüllen des Naturfreunds stille Träume: Rad-, Wander- und Literaturtouren durch ausgedehnte Wälder und alte böhmische Dörfer, Paddeltouren von der Quelle bis zur Mündung der Moldau. Entlang einem historischen Schwemmkanal, auf dem früher das Holz von den Höhen des Böhmerwaldes zur Donau hingeschwemmt wurde, führt ein Radweg. Fast zu schön, um wahr zu sein. Eher nebenher hört man von touristischen Projekten wie einem Skigebiet am Hochficht, das den Übergang zu österreichischen Skigebieten bilden soll. Es liegt auf Eis, weil es in die Kernzone des umava fällt. „Um es zu realisieren, müssen die Gesetze geändert werden“, sagt Michal Valenta von der Nationalparkverwaltung. Und zuckt die Achseln. Alles ist möglich – open end für den Böhmerwald. Er braucht noch viele Naturfreunde, um sich als romantischer Geheimtip zu halten.
Die NFI und ihre Landesverbände organisieren in diesem und dem nächsten Jahr eine Reihe von Veranstaltungen und Reisen im Böhmerwald: Naturfreunde Internationale, Diefenbachgasse 36, A-1150 Wien.
Auf den Böhmerwald spezialisierter Reiseveranstalter: Dr. Erwin Aschenbrenner, Dechbettener Str. 47 b, 93049 Regensburg. www.boehmen-reisen.de
„Wir wollen den Böhmerwald, dieses Grenzgebiet, als eine europäische Region installieren“
„Wir streben ein Europa an, das durch Regionen und nicht durch nationale Konkurrenz geprägt ist“
Die Naturfreunde wollen eine nachhaltige Entwicklung ankurbeln, vor allem durch sanften Tourismus
Im Grenzbereich werden Straßenmeilen zu Bordellzonen und zu Umschlagplätzen von Ramsch
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