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Anlauf zum Zeitensprung

Jahrhundertsprünge haben allzeit Menschen zur Suche nach dem Außergewöhnlichen oder zu Hochleistungen der Phantasie angespornt: Und die Reiseveranstalter schaffen Events    ■ Von Bernd Hans Martens

Willkommen also, auf der großen Fahrt im Meer der Leere und der Finsternis. Abreisen und Ankommen sind eins, wir bleiben unterwegs, von der Schwerkraft sowohl gehalten als auch getrieben. Nur noch ein Stück weit um die Sonne sausen, mit Erdumlaufgeschwindigkeit nähern wir uns der Jahrtausendwende.

Dei Zeit? Ach, das ist nichts weiter als der Radius des Universums, hat uns Albert Einstein erklärt und aus der Zeit ein Längenproblem gemacht. „Für uns gläubige Physiker hat die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.“

Aber wollten wir nicht immer schon einmal mit einem Bein in der Zukunft stehen? Nun, schon bald wird die Gelegenheit dasein! Vom 31. Dezember auf den 1. Januar, am Sprungtag also, bieten Reiseveranstalter Fahrten entlang der Datumsgrenze im Pazifik an. Man macht sich die Differenz der Ortszeit gegenüber der Weltzeit zunutze. Reist nun jemand am letzten Tag dieses Millenniums den 180. Längengrad entlang, dann befindet sich auf einer Seite noch das zweite Jahrtausend, gegenüber kann er das dritte hereinschwenken sehen. Mit einem Bein in der Gegenwart, das andere in der Zukunft und in den Händen Champagner oder Selters , alles inklusive. Als hätten sich die Reiseveranstalter die Jahrtausendwende fein ausgedacht.

Was also ist die Zeit? „Wenn man mich danach fragt, weiß ich es, will ich es dem Frager erklären, weiß ich es nicht.“ So bündig hat Augustinus, Philosoph und Kirchenmann, deutlich gemacht, wie sich unser emotionales Verhältnis zur Zeit von dem intellektuellen abgrenzt.

Jahrhundertsprünge haben allzeit Menschen zur Suche nach dem Außergewöhnlichen oder zu Hochleistungen der Phantasie angespornt. So sprangen Otto- und Dieselmotoren zum ersten Mal gegen Ende des letzten Jahrhunderts an und beschleunigten die Menschen ins nächste. Schnell geriet der Raum in Abhängigkeit zur Zeit, Entfernungen wurden bald in Autostunden gemessen. Heute überwinden wir den Raum, bringen ihn zur Strecke, könnte man sagen. Bewegung kann zur Starre werden, oder Tempo beschleunigt die Leere. Ich rase – also wo war ich? ist die Erkenntnis der mobilen Zeitgenossen.

Die Sache mit der Zukunft sei bereits früh schiefgelaufen, sagt Paul Virilio, französischer Geschwindigkeitsforscher. „Das Unglück begann, als die Männer der Vorzeit erst ihre Frauen zur alleinigen Hausarbeit zähmten, dann die Pferde, um Zeit für sich selbst zu gewinnen.“ Diesen Zeitvorsprung nutzten sie nicht zum Müßiggang und zur Aufzucht der Kinder, sondern für Jagd und Krieg, wodurch der Rhythmus der ganzen Art sich immer mehr beschleunigte.

Wer dem zu erwartenden Jahrtausend nicht an der Datumsgrenze entgegenwinken will, der kann es in Straßburg vor dem Münster erahnen. Die Millenniumsglocke, im 14. Jahrhundert in den Turm eingebaut, schlägt, exakt, aber selten, nur zur Beginn eines neuen Jahrtausends an. „Hören Sie den Jahrtausendton live!“ so lädt ein Spezial- und Bildungstouristikanbieter nach Straßburg ein. Millennarier, Visionäre, Liebhaber antiker Technik und Hörzeugen werden sich vor dem Straßburger Münster treffen, zur ersten gemeinsamen Open-air-Veranstaltung des nächsten Jahrtausends.

Über die Richtung der Zeit hat auch Einstein nicht viel ausgesagt. Die Welt aber bewegt sich in Richtung des ungeordneten Zustands fort, physikalisch-thermodynamisch betrachtet. Ein Naturgesetz, dessen Auswirkung wir alle zu spüren meinen, an manchen Tagen jedenfalls. Schon geraten wir in den Strudel eines weggurgelnden Jahrtausends, spüren den Sog der Geschichte – oder ist es der Zeitgeist, dieses liebste aller Gespenster?

Aber ist nicht jeder Jahrhundert-Jahrtausendwechsel nur ein Bluff mit vielen Neunern und Nullen? Die Sonne wird wohl nicht anders aufgehen als in den 4,5 Milliarden Jahren Erdexistenz zuvor. Und in anderen, nichtabendländischen Gegenden wird auch der Beginn des Neujahrs ein anderer sein. In China: am 5. Februar. In Indien mit seinen vielen Kalendarien beginnt eines bereits im November. Auch der Bezugspunkt unserer Zeitrechnung, Christi Geburt, wurde irrtümlich im 6. Jahrhundert um sechs Jahre vorverlegt. Demnach befinden wir uns bereits dort, wo wir demnächst sein werden: im dritten Jahrtausend. Nur, wie gesagt, das zählt nicht.

Da es aber das Jahr 0 nie gegeben hat, die Jahreszählung bei 1 losging, wird folglich der Jahrtausendwechsel von 2000 auf 2001 stattfinden. Nun, wir werden noch einmal mehr um die Sonne sausen und es auch wahrnehmen, die Reise durch die Finsternis, nur von der Sonne bewegt.

Zurück zur Erde. Hier wird gefeiert werden. Längst ist der vorgezogene Jahrtausendwechsel zum Event gemacht worden. „Bleiben Sie auf der Höhe der Zeit!“ sagt uns die Werbung. Wo immer das sein mag. Während beim Anrennen gegen die Zeit der Hase am Leben vorbeiläuft, bleiben Igel und Igelin in der Gegenwart sitzen und rufen: „Ick bün all dor!“ Wer wissen will, wie die Geschichte ausgeht, kann es in Grimms Märchenbuch nachlesen, in der Vergangenheit also.

Nun denn, feiern wir also, daß wir weiterhin auf unserem wundersamen Planeten durchs Leben reisen. Doch zeitlich fixierter Gründe bedarf es eigentlich dazu nicht, denn alle Lebenslust will Ewigkeit. Und im Universum gilt überall: Die Zeit ist ein Ereginis nach dem anderen. So wird es auch bleiben, mit und ohne Zeitensprung.

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