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„Nil der Sprache“

■  Die Ausstellung „Marcel Proust – Zwischen Belle Époche und Moderne“ zeigt den Autor als Heimsuchung für die Setzer

Als Marcel Proust das Maschinenmanuskript von Du côté de chez Swann, des ersten Teils seines Romans À la recherche du temps perdu, seinem Freund Antoine Bibesco übergab, damit sich dieser vermittelnd für eine Drucklegung einsetzt, wies er nicht nur auf das enorme Gewicht des Pakets hin: Es zeichne sich auch durch eine subtile Psychologie der Fläche, eine Psychologie im Raum und in der Zeit aus – eigentlich eine Fluchtperspektive. In der Ausstellung „Marcel Proust und die Belle Époque des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe läßt sich jetzt betrachten, wie Proust dieses Ineinander zu Papier gebracht hat.

In zwei Vitrinen sind Exemplare der sogenannten placards ausgestellt. Das sind große gefaltete Bögen, auf die Proust von seiner Haushälterin Céleste Druckfahnen und handschriftliche Blätter kleben ließ und die ihm als Grundlage für die Ausarbeitung der endgültigen Romanform dienten.

Die armen Setzer! Statt Korrekturen bekamen sie von Proust immer wieder neuen Text. Er schrieb nicht nur kleinere Zusätze und Ergänzungen hinzu, sondern nutzte den freien Raum der Seitenränder, um die Erzählung wuchern zu lassen. Es gab für Proust, wie Reiner Speck, Präsident der Marcel-Proust-Gesellschaft sagte, ein „Schreiben ohne Ende“ – zum Leidwesen all derer, die mit der Publikation des Werkes zu tun haben sollten. Die tendenziell unendliche Ausdehnung der beschriebenen Fläche, des konzeptionellen Raums und eben der Zeit, in der dieses Werk produziert werden sollte, läßt auf eine starke Hemmung schließen, die Proust als Antrieb seines Schreibens wohl zu pflegen wußte.

Reiner Speck, von Beruf Urologe, besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen von Gegenwartskunst und eben die umfangreiche „Bibliotheca Proustiana“, von der ein großer Teil in Hamburg gezeigt wird. Mit dieser Sammlung, die neben vielen Autographen zahllose Ausgaben der Werke Prousts und noch mehr Sekundärliteratur enthält, versucht Speck sich das literarische Erinnerungswerk, diesen „Nil der Sprache“, als Sammler anzuverwandeln: eine unendliche Sehnsucht, die ihren Ausgang nimmt in der exklusiven Lust eines „Lesens ohne Ende“, dem „wie von selbst ein Schreiben ohne Ende und schließlich auch Sammeln ohne Ende“ folgt. Im privaten Umgang mit der Sammlung verwahrt sich Speck gegen „die Langeweile der Ordnung“. Vielmehr scheint sich ihm, wie er in der Einleitung zum Katalogbuch der Ausstellung schreibt, alles „in einem permanenten Aufruhr gegen etwas anderes“ zu befinden.

Um das auch zu zeigen, hätte man die Sammlung nicht in Vitrinen, sondern als die Bibliothek präsentieren müssen, die sie ist: als Raum mit vollgestopften Regalen, möglicherweise ein paar Sessel und Tische darin, mit einer Ordnung jedenfalls, die durch die übliche Benutzung zur Auflösung tendiert. Die Besucher, als die eigentlichen „Zuhälter des Glücks“, müßten die oft wertvollen Bände in die Hand nehmen, darin blättern und lesen, Manuskripte studieren und die Zeichnungen betrachten können, die Proust immer wieder in seine Briefe eingefügt hat. Natürlich würden die Papiere, Umschläge und Einbände unter den vielen schweißfeuchten Händen schwer zu leiden haben, doch, wie Reiner Speck sagt: „Wir leiden alle an Proust, warum sollen die Dinge nicht auch zu unseren Gunsten leiden.“ Derart das kostbare Private öffentlicher Erosion auszusetzen und dem Fetisch einen Vergänglichkeitsanstrich zu geben, wäre wohl auch der Belle Époche angemessen gewesen. Das Symposium, das zu Beginn der Ausstellung stattfand, hat diesen Eindruck jedenfalls bestätigt: „Natürlich bewegte sich Proust in dem artigen Kreis seiner Freunde, er schickte ihnen Luxusausgaben seiner Werke, aber wovon er später träumte, war eine Ausgabe, die am Bahnhofskiosk gekauft und im Zug gelesen werden sollte. Er war nicht elitär, sondern er träumte davon, wirklich mit seinem Werk unter das Publikum zu kommen“, erklärte Luzius Keller, Herausgeber, Übersetzer und Kommentator der neuen Frankfurter Proust-Ausgabe.

Prunk und Schlichtheit gehen in der Recherche eine bemerkenswerte Symbiose ein. Wie auch in Specks Sammlung, ist hier eine gespielte Einfachheit am Werk, die sich ihre Anstrengung nie anmerken lassen will, die aber auch nicht ohne die stete Herablassung der zeitgenössischen Mehrwertgewinnler auskommen mag. So läßt sich die Belle Époche als eine Spielart von Materialismus beschreiben, die ohne Scheu den Dingen eifrig auftrumpfende Symbolkraft zumutet, immer schön aus dem Zusammenhang gerissen, praktisch schon postmodern.

Der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp erklärte die Belle Époche anhand der Porträtmalerei als eine Zeit der Neureichen und ihrer Selbstbespiegelung. Selbst die Kulisse verschwindet, Ausstrahlung ersetzt Reichweite und Distanz, gesellschaftliche Anerkennung wird dargestellt als Gabe, die eigentlich nur Habe ist.

Eine Schlüsselfigur der Belle Époche war Robert de Montesquiou, der „Herrscher der vergänglichen Dinge“, wie er sich selbst nannte. Die Bayreuther Komparatistin Ursula Link-Heer berichtete von dieser außergewöhnlichen „Ego Imago“ – so betitelte Montesquiou ein Album mit fotografischen Selbstporträts. Als eines der Vorbilder für den Baron de Charlus in der Recherche, dem Schönheit als Beruf gilt, verkörpere er nicht nur seine Epoche, vielmehr habe Proust „das Oeuvre Montesquious gespiegelt, besprochen und verzerrt“.

Merkwürdig unentschieden beschreibt sich Proust im Bilde Montesquious mit einer Eitelkeit, die ihr tatsächliches Wissen mit zahllosen Details zur bedeutungsüberfrachteten und damit schon wieder sinnentleerten Kostbarkeit macht. Proust hat der prächtigen Sentimentalität eine Form gegeben, die den nostalgischen Trug hinter sich läßt, und ist mit dem großen Metamorphosenwerk der Recherche in eine Zukunft entkommen, die der Belle Époche einigermaßen gleichgültig war. Guido Graf

„Marcel Proust – Zwischen Belle Époche und Moderne“. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Die Ausstellung läuft noch bis 29. August.

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