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Irans Studenten proben die Revolution

■  Größte Demonstration seit Gründung der Islamischen Republik: Nach dem Tod mehrerer Studenten beim Sturm der Polizei auf ein Wohnheim gehen Zehntausende auf die Straße und verlangen mehr Demokratie

Berlin (taz) – Irans Studenten sind nicht mehr zu halten. Tausende Hochschüler setzten gestern vor dem Haupteingang der Universität Teheran ihren Protest gegen die Erstürmung eines Studentenwohnheims fort. Beobachter zählten am Nachmittag rund 20.000 Demonstranten, einige von ihnen waren vermummt. Mit Autoreifen und Stacheldraht riegelten sie die Zufahrt zu einem der Wohnheime ab.

Laut Augenzeugen waren bei der Polizeiaktion am Freitag abend mindestens fünf Studenten getötet worden. In seiner ersten Erklärung äußerte der reformorientierte Präsident Mohammad Chatami gestern tiefes Bedauern über den „häßlichen und bitteren Vorfall“. Die Ermittlungen würden so lange fortgesetzt, bis alle Schuldigen zur Verantwortung gezogen worden seien. Er „verurteile den tragischen Vorfall“ und werde ihn „persönlich bis zur vollständigen Aufklärung verfolgen“. Zugleich rief er die Studenten zur Ruhe auf, denn: „Was das Land nun am meisten braucht, ist Ruhe und Umsicht.“ Gewalt verschlimmere nur die Lage.

Chatamis Appell wurde den Studenten von Faiseh Haschemi in ein Wohnheim überbracht. Die Parlamentsabgeordnete, Tochter des früheren Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani, ist ein Aushängeschild der iranischen Reformer. Die von ihr herausgegebene Zeitung San (Frau) war im April von der konservativen Justiz geschlossen worden.

„Entweder Islam und Gerechtigkeit oder eine neue Revolution“, skandierten gestern einige Studenten. Die Proteste wollten sie erst beenden, wenn alle Forderungen erfüllt seien: die Bestrafung der für die Erstürmung verantwortlichen Polizisten und die Entlassung von Polizeichef Hedajat Lotfian. Zunächst jedoch entließ die Staatsführung nur den Polizeigeneral Mohammad Achmadi und einen seiner Stellvertreter. Sie hätten die blutige Razzia auf dem Unigelände angeordnet.

Am Samstag abend hatte sich der Protest zu einer Massendemonstration mit 25.000 Teilnehmern ausgeweitet. „Tod den Diktatoren“, skandierte die Menge. Als Protest gegen die Polizeiaktion reichte Hochschulminister Mostafa Moin seinen Rücktritt ein. Präsident Chatami akzeptierte dies jedoch nicht. Unwidersprochen legte dagegen der konservative Kanzler der Universität sein Amt nieder.

Am Freitag abend hatte die Polizei das Wohnheim gestürmt, in dem sich Anhänger Chatamis verschanzt hatten. Dabei waren laut Angaben von Studenten mehrere ihrer Kommilitonen getötet worden. Die Führung sprach dagegen von einem Toten und drei Verletzten. Zuvor war es zu Prügeleien mit Gegnern des Präsidenten gekommen. Nach iranischen Zeitungsberichten wurden dabei mindestens 20 Menschen verletzt. Bis zu 1.000 Beteiligte sollen festgenommen worden sein.

Die Lage war eskaliert, nachdem Studenten am Donnerstag gegen die Schließung der linksislamischen Zeitung Salam (Frieden) und gegen ein Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit protestiert hatten. Dabei wurden sie von religiösen Hooligans angegriffen.

Die größten Demonstrationen seit der Islamischen Revolution vor 20 Jahren sind ein Teil des Machtkampfes zwischen den Gemäßigten im religiösen Establishment des Landes um Präsident Chatami und der konservativen Geistlichkeit um den Religiösen Führer Ali Chamenei.

Irans Justiz sorgte gestern für einen weiteren Anlaß für Proteste: Der Chef der Sicherheitspolizei, Brigadegeneral Gholamresa Nakdi, wurde vom Vorwurf der Folter freigesprochen und nur wegen Verletzung seiner Dienstpflicht zu acht Monaten Haft verurteilt. Nakdi war wegen Mißhandlung von inhaftierten Mitgliedern der Teheraner Kommunalverwaltung angeklagt worden – allesamt Mitarbeiter des inhaftierten ehemaligen Teheraner Bürgermeisters Gholamhossein Karbaschi, eines engen Verbündeten von Präsident Chatami. Thomas Dreger

Tagesthema Seite 3

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