■ Das Diepgen des Tages: Der Journalist Benjamin Heinrichs sucht das wahre Leben in Berlin
Sie kommen aus allen Provinzen. Zuhause war es sooo eng. Jetzt verstopfen sie die Straßen der Hauptstadt. Journalisten.Tausende von Journalisten. Bald werden es Millionen sein. Hauptsache Berlin. Leben. Party. Paris-Bar. Gästeliste. Guter Sex vom Feinsten. Aaah: Pulsiiierend.
Das denken sie sich jedenfalls, beziehungsweise es denkt in ihnen, und sofort schreiben sie es in ihre Gazetten, damit die zuhause gebliebenen Wichte auch eine Ahnung davon bekommen, wie Leben sein könnte. Wie eine Sonnenfinsternis. Nur besser. Grell. Schnell. Laut.
Nur gut, dass es Benjamin Henrichs (Süddeutsche Zeitung) gibt. Dieser „Rosenkavalier des Theaters“ (Der Spiegel) ist anders als alle anderen. Leise. Der letzte Bildungsbürger, der allerletzte Flaneur, immer unterwegs auf der Suche nach dem wahren Leben. Und, oh ja, er findet es – zum Beispiel im Schweigen der Berliner Vögelein.
Unlängst auch in einer Moabiter Kneipe. Man macht sich ja keine Vorstellung in der Provinz, wie in dieser Kneipe gelebt wird. Ben schon. Nicht dass er in die Kneipe reingegangen wäre. „Wir“, wie sein literarisches Ich in bemerkenswerter journalistischer Transparenz gesteht, „wir trauen uns nicht.“ Das macht aber natürlich gar nichts, im Gegenteil.
So kann Ben den Lesern der Berlin-Seite der Süddeutschen Zeitung erzählen, was wir uns denken, wie wohl in der Kneipe gelebt wird. Ist viel spannender. Oder er erzählt, was wir denken, was die anderen denken, wenn sie in der U-Bahn Berlin erleben.
Oder er geht in dieMoabiter Heinrich-von-Kleist-Oberschule und nimmt sich ganz fest vor, jetzt aber mal in echten Berliner Kontakt mit lebendigen Berliner Lehrern und Schülern zu treten. Puh, ist das spannend. Sind aber Ferien. So ein Pech. Sucht er halt den Kleist persönlich auf.
Oder den Herrn Grabbe. Oder die Prinzessin Natalie von Oranien. Sicher eine tolle Schnecke. Wie ja eigentlich alle Weiber in Berlin. Ja, Ben kennt sie alle. Obwohl er noch gar nicht so lang in der Stadt ist. War ja vorher 24 bis 25 Jahre in der Provinz. Ach! Oh! Weh! Bei der Zeit. Da wird ja auch viel gedacht. Wie alles sein könnte.
Aber das ist für Ben Finis. Er lebt jetzt in Berlin. Oder flieht. „Berlin ist einfach zu aufreibend“, notiert er. Wer könnte das nicht verstehen? „Leicht müde Ironie“ würde das seine ehemalige Chefin wohl nennen. Aber erstens: Wer ist Sigrid Löffler? Und: Wo? Jedenfalls nicht in Berlin. Und zweitens: Ist das auch gerecht? Haben wir mit dem feinsinnigen Ben wirklich den Richtigen getroffen? Sind nicht die lauten Berlin-Denker viel schlimmer?
Wer kann das sicher sagen? Kleist, bestimmt. Wir haben uns das halt mal so gedacht.
Molly Bluhm
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