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Freundinnen müsste man sein

Das Leben ist ein Teenager: Elke Naters neuer Roman, „Lügen“, erzählt von einer Welt, die bei Hanni und Nanni aufhört. Peinlich ist das trotzdem nicht  ■   Von Kolja Mensing

Ende der Neunziger sind Literatur und Leben wenig aufregend, aber sie sind jung und sehen gut aus

Damals, Anfang der Neunziger, war es zu einem kurzen Streit über die Literatur gekommen. Matthias Altenburg hatte sich im Spiegel darüber beklagt, dass seine Kollegen von einer „Wirklichkeit außerhalb der Sprache“ nichts wissen wollen, darum langweilige Bücher schreiben und dann auch noch Preise dafür bekommen. Die Sätze, fand Altenburg, sollten wieder „Tempo kriegen und die Geschichten Drive“, die Literatur sich wieder der „dicken Mama“ zuwenden, „die wir uns angewöhnt haben, 'das Leben‘ zu nennen.

Unter anderem hat sich damals Thomas Hettche über diese Polemik geärgert, und es gab so etwas wie eine kleine Realismusdebatte, über die heute natürlich niemand mehr redet. Thomas Hettche ist jetzt im Internet, und Matthias Altenburg schreibt mit ganz viel Drive Bücher und bekommt dafür genau die Preise, die er seinen Kollegen damals nicht gegönnt hat.

An seinen Vorschlag, das Leben als „dicke Mama“ zu porträtieren, hält sich aus der nachwachsenden Schriftstellergeneration niemand. Ganz im Gegenteil. Am Ende der Neunzigerjahre sind das Leben und die Literatur vielleicht nicht allzu aufregend, aber sie sind jung und sehen gut aus.

Genau wie Augusta und Be. Die beiden Freundinnen sind Ende 20, wohnen in der großen Stadt Berlin und reden am liebsten über „Mode und Männer“ und „noch so Diverses, mehr Zwischenmenschliches, über Leute, die wir kennen, und gemeinsame Freunde“. Im Moment sind sie gerade mal unglücklich. Augusta, weil sie alleine ist, und Be, weil sie nicht alleine ist, sondern einen viel zu netten Mann namens Karl hat.

Augusta tut nichts, um ihre Situation zu ändern, Be dagegen verliebt sich in eine Frau, verlässt vorübergehend Karl und macht auf glücklich, was wiederum Augusta noch unglücklicher macht. Jetzt hat sie niemanden mehr, mit dem sie über diverses Zwischenmenschliches reden kann: „Was soll man denn denken, wenn die beste Freundin von heute auf morgen ein anderer Mensch wird“, sagt Augusta: „Das muss Be doch zugeben, dass das nicht so einfach zu schlucken ist.“

Be gibt das nicht zu, und darum haben die beiden besten Freundinnen eine schwere Zeit: Das ist das Setting von „Lügen“, nach „Königinnen“ (1998) der zweite Roman der Berliner Autorin Elke Naters.

Augusta, die traurige Icherzählerin, kennt Be, die früher mal Bärbel, Babsi und Barbara hieß, sehr lange. Schon während ihrer Schulzeit in der Provinz haben die beiden mehrmals aus ähnlichen Gründen das Modell „beste Freundin“ kurzfristig außer Kraft gesetzt. Mit ihrem aktuellen Streit inszenieren sie also im Grunde genommen nur einen Rückfall in ihre Teenagerzeit, und „Lügen“ spielt diese melancholische Regression ganz schamlos auf allen Ebenen durch.

Mit nicht besonders langen und immer ein bisschen niedlichen Sätzen wird in Augustas Monologen der neuen Bitterkeit stilsicher die Möglichkeit einer ewigen Kindheit und Jugend gegenübergestellt: „Dann könnte ich einen Freund haben und zwei Freundinnen, und wir hätten eine Menge Spaß und viel zu lachen, bis an unser Lebensende“, malt sich Augusta am Ende des Romans eine verliebte Kleine-Mädchen-Utopie aus: „Das wäre mal schön.“

Ja, heißa, hopsasa, das wäre mal schön: So reden Eva-Lotta, Annika und Pippi Langstrumpf, und „Lügen“ klingt an vielen Stellen so wie ein Rewriting der deutschen Astrid-Lindgren-Übersetzungen: Willkommen in der Villa Kunterbunt.

Bevor man den Roman jetzt vorschnell einer aufgesetzten Niedlichkeit bezichtigt, muss man wohl zugeben, dass er sich beim Lesen einfach ziemlich gut anfühlt: 193 Seiten kindgerecht aufbereiteter Alltagsblues, das lässt man sich gern gefallen.

Und, zur Beruhigung für alle, die Bücher nicht nur deshalb lesen, weil sie sich gut anfühlen: Elke Naters weiß auch ganz genau, was sie da eigentlich macht. Sie kommentiert und erklärt ihr literarisches Kindchenschema in kleinen und großen Anspielungen nämlich ständig selbst – zum Beispiel wenn sie in einer zunächst geradezu erwachsenen Passage Augusta über ihre Lieblingsbücher nachdenken lässt. Dort wird neben den großen alten Männern des europäischen Realismus – Flaubert und Dostojewski – auch Henri Alain-Fourniers Roman „Der große Meaulnes“ genannt: ein Buch, das von nichts anderem erzählt als von der Sehnsucht, ein Kind zu sein und immer zu bleiben.

Be hat „Der große Meaulnes“ auch gelesen, und deshalb ist sie Augustas Freundin: „Weil sie, obwohl sie sich so dumm anstellt, gar nicht dumm sein kann. Man kann keine tiefe Freundschaft zu jemandem halten, der denkt, die Welt hört bei Hanni und Nanni auf.“ Nein, kann man nicht. Eigentlich kann man darum auch kein Buch lesen, das nichts anderes beschwört als eine Astrid-Lindgren-Enid-Blyton-beste-Freundinnen-Welt.

Man tut es trotzdem, und das muss einem noch nicht einmal peinlich sein. Erstens, weil „das Peinliche nur peinlich ist, wenn man es verheimlicht“. Sagt Augusta. Und zweitens, weil man zur Not ja ganz erwachsen in „Lügen“ ein sogenanntes Phänomen sehen kann: Nach der vom Feuilleton in diesem Frühjahr so begeistert aufgenommenen Verjüngung der Autoren und Autorinnen verjüngen sich jetzt auch die Sprache, die Texte und ihr gemeinsamer Gegenstand: Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, uns die Literatur und das Leben als ein kicherndes Teenagerpärchen vorzustellen.

Übrigens: Als der Verlag Kiepenheuer & Witsch vor einigen Tagen auf einem Empfang in Berlin Elke Naters' Roman „Lügen“ vorstellte, waren dort viele Schriftsteller, Verlagsleute und Journalisten in engen Atari-T-Shirts oder Konfirmationsanzügen von Peek & Cloppenburg. Zwischen ihnen stand auch ein offensichtlich sehr junger Mann mit lustigen blonden Haaren, schönen blauen Augen und einer schwarzen Windjacke: Benjamin Lebert, inzwischen 17 Jahre alt, der vor einigen Monaten einen Roman namens „Crazy“ veröffentlichte.

Demnächst soll ein neues Buch von ihm erscheinen, erzählte man sich auf diesem Empfang. Es soll ein Kinderbuch werden, über einen Hund: Die Regression geht immer weiter, genau wie das Leben und die Literatur. Irgendwann werden wir bei null angekommen sein, und dann, zurück im Leib der dicken Mama, werden wir auch wieder über Realismus reden. Ganz bestimmt.

Elke Naters: „Lügen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 191 Seiten, 29,80 DM

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