: „Es gab brenzlige Situationen“
■ Viertel-Beiratsmitglied Gülbahar Kültür half Rettungstrupps beim Bergen von Erdbebenopfern in der Türkei / Die Viertel-Initiative will jetzt helfen
Eigentlich wollte Gülbahar Kültür nur Sommerurlaub bei Familienangehörigen in Istanbul verbringen. Aber am frühen Morgen des 16. August rüttelte sie das Erdbeben aus dem Bett. Danach kamen bange Minuten: Was war das? Wo war das? – und eine Restnacht ohne Schlaf. Noch eine Woche später campierte die Familie vorsorglich im Freien. Da waren die schrecklichen Bilder vom Ausmaß der Katastrophe schon um die Welt gegangen und Gülbahar Kültür hatte sich einer Einsatztruppe des Technischen Hilfswerks (THW) in Izmit angeschlossen, um als Übersetzerin zu tun, was möglich war.
taz: Was macht man, wenn die Erde bebt?
Gülbahar Kültür: Rauslaufen. Und dann Freunde und Verwandte anrufen. Aber es gab lange keine Verbindung. Erst um fünf Uhr früh habe ich eine Freundin in Hannover erreicht, von der ich wusste, dass sie Angehörige in Izmit hat. Da war im Radio schon klar, dass etwas sehr Schlimmes passiert war. Aber erst als es hell wurde, kamen die Bilder. Das ist ein wahnsinniges Gefühl von Ohnmacht.
Sie haben einen Weg gefunden, damit aktiv umzugehen.
Ja, ein Cousin hatte gehört, dass man für ausländische Hilfsmannschaften freiwillige Übersetzer brauchte. Also haben wir versucht, die Zuständigen zu erreichen. Wir haben lange geforscht, bis wir zufällig erfuhren, dass es am Flughafen einen Treffpunkt gab. Als die zweite Gruppe Deutscher eintraf, hatte sie schon fünf Stunden verloren – weil auf türkischer Seite die Koordination nicht klappte. Aber die 16 Leute vom THW Wiesbaden mit Hunden und allem Drum und Dran wussten schon, dass sie nach Izmit wollten.
Was konnten Sie da tun?
Übersetzen. Die Verständigung musste ja ganz schnell, ohne Zeitverlust klappen. Es gab auch ein paar brenzlige Situationen, wo Leute uns beschimpft haben, wir würden an der falschen Stelle suchen, ihre Verwandten wären woanders verschüttet und so.
Sie waren selbst zum ersten Mal in einer solchen Situation. Wie handelt man da?
Ich musste mitmachen. Das war ein ganz starkes Gefühl. Es war gut, dass ich immer zu tun hatte. Aber so ein Elend habe ich noch nie gesehen, es roch. Überall war Staub. Leichenteile. Die Kollegen haben mir geraten, nicht hinzuschauen und ich habe versucht, möglichst wenig zu sehen. Zuerst wusste ich auch gar nicht wie rufe ich denn in so ein Loch, aus dem Klopfzeichen kommen? Hallo, lebt da jemand? Das war kein gutes Gefühl. Es gab auch ganz absurde Situationen. Zufälle. Wenn beispielsweise eine Sofalehne jemanden gerettet hatte, über dem sich noch mehrere Etagen türmten. Oder es gab Leute, die wir rausgeholt hatten, die als erstes geschimpft haben. Von Einem beispielsweise wollten wir wissen, ob er von anderen Verschütteten wusste. Aber der hat nur gesagt, was redet ihr so lange, gebt mir Wasser. Ein Anderer war sauer, dass das so lange gedauert hat.
Hier wurde über das Chaos der Rettungskoordination berichtet. Wie war das vor Ort zu spüren?
Das Schlimmste habe ich bei meiner Ankunft gesehen. Da waren drei siebenstöckige Gebäude ineinander gestürzt und nur ein paar Bewohner waren geborgen worden, bevor man anfing, Trümmer zu zerschlagen, um den Schutt abzutransportieren. Das THW hat interveniert, um die Chance auf Bergung von Verschütteten zu wahren. Da hatte ich das schlechte Gefühl, man versuchte das Erdbebenproblem schnell zu erledigen, während drum herum aufgebrachte Überlebende und Angehörige standen. Schrecklich. Aber andererseits habe ich in der Türkei zum ersten Mal wieder so eine Art zivile Bewegung gesehen. Die Menschen haben schneller reagiert als der Staat. Alle kamen, um zu helfen.
Andererseits gab es – jedenfalls hat das Fernsehen das übertragen – viele Menschen, die verstört und apathisch am Straßenrand unter Planen campierten.
Die Leute laufen auch in Istanbul verstört rum. Jeder hat doch Verwandte und Bekannte im Erdbebengebiet. Außerdem gibt es Nachbeben, ständig wirst du leicht geschüttelt. Nur meinen Eltern habe ich dann nichts gesagt. Das hatten meine Schwester und ich so verabredet – ein bisschen in der Hoffnung, dass sie es nicht gemerkt haben. Aber das kommt immer wieder. Ich habe drei Wochen lang nur mit einem Auge geschlafen.
Im Viertel gibt es eine Initiative, um langfristig zu helfen. Es soll traumatisierten Erdbebenopfern und Kindern langfristig geholfen werden. Ist schnelle Hilfe nicht wichtiger?
Ich glaube die technische Hilfe läuft jetzt. Da kommt was. Aber wenn man in die Nachrichten schaut, ist das Thema schon wieder weg. Das macht Angst, denn die Folgen werden jetzt immer deutlicher spürbar. Viele Menschen sind traumatisiert. Alles muss neu aufgebaut werden. Ich war für ein paar direkte Kontakte deshalb noch mal in Izmit, denn das Viertel-Projekt soll lange wirken.
Über 20 Organisationen im Viertel haben sich zusammengeschlossen, um „Hilfe ohne Umwege“ direkt zu organisieren. Gedacht wird an ein Waisenhaus, an Beratungsmöglichkeiten und anderes. Noch ist der Kontakt im Aufbau. „Angesichts der Lage im Erdbebengebiet ist das eine echte Herausforderung“, sagt Viertelbürgermeister Robert Bücking. Zugleich sammelt die Initiative Geld, um schnell handeln zu können, sobald die Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort etabliert ist. Bereits jetzt stehen in vielen Läden und Einrichtungen im Viertel Spendenbüchsen des Projektes „Das Viertel hilft“. Überweisungen können auf das gemeinnützige Spendenkonto – Stichwort „Das Viertel hilft“ – bei der Bremer Sparkasse, Konto 16 72 195, BLZ 290 501 01 eingezahlt werden. Fragen: E. Rhode
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