■ Kommentar: Wirklichkeitssperre Zur Debatte um das Sparkpaket im neuen Bundestag
Gestern war der erste Tag einer als historisch etikettierten Debatte im neuen Bundestag in Berlin. Wer aber erwartet hatte, die Diskussion über das „Sparpaket“ oder den Haushalt 2000 würde den Menschen im Lande mehr Klarheit über die Frage bringen, was soziale Gerechtigkeit ist, sah sich schwer getäuscht. Das Reichstagsgebäude war nicht die erhoffte neue politische Tribüne der Republik.
Im Gegenteil: Die Kontrahenten, hier die schlingernde rot-grüne Regierungsfraktion, da die von Wahlsiegen in den Ländern berauschte Union, konnten noch nicht einmal Einigkeit über das Unstreitige herstellen: dass nämlich das Bundesbudget mit 478 Milliarden Mark kleiner ist als der Schuldenberg: 1,5 Billionen.
Ursache für solcherlei Missverständnisse ist nicht allein die handwerkliche Schwäche, von der die Mannen und Frauen um Gerhard Schröder befallen sind. Ähnlich wie bei der Ostpolitik Willy Brandts in den frühen 70er-Jahren ist es die Union, die sich der Wirklichkeit versperrt. Die Konservativen haben es offenbar nicht verkraftet, nach 16 Jahren Regierungszeit abgelöst worden zu sein. Wer jetzt glaubt, über ein Schuldengebirge des Bundes hinwegsehen zu können, das alle politischen Spielräume zu ersticken droht, ist ein Träumer. Man kann, wie es manch aufgebrachter Sozialdemokrat getan hat, bei den von findigen Finanzexperten der Union behaupteten Zusammenhängen auch von Lüge sprechen. Es war zum Beispiel nicht „die Unredlichkeit“ Oskar Lafontaines, die Verbindlichkeiten des Erblastentilgungsfonds in den regulären Etat wieder einzustellen. Es war eine durch die Verfassung gebotene Notwendigkeit, diesen „Schattenhaushalt“ endlich aufzulösen.
Nur bringt es vor dem Publikum keine Punkte, wenn sich Politiker gegenseitig der Lüge bezichtigen. Vielleicht taugt wirklich der Vergleich mit dem „Wandel durch Annäherung“ gegenüber der DDR. Auch damals brach eine frisch ins Amt gewählte SPD-Regierung mit einer Lebenslüge. Die kurzfristige Folge war ein vergiftetes innenpolitisches Klima, die langfristige: bessere Lebensbedingungen für die Menschen in der DDR.
Leider nützt dieser historische Verweis nichts für die jetzige Debatte – die über die Frage, wie man mit dem und trotz des Sparpakets die guten Lebensbedingungen in der Bundesrepublik gerecht gestalten und erhalten kann. Christian Füller
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen