: Gespenster, die sie riefen
Er kennt das Deutschland der Nachkriegszeit, hat die DDR bereist und auch die BRD. Die Wende vor zehn Jahren hat er glücklich nachempfinden können. Die europäischen Probleme sind damit nicht aus der Welt geschafft, im Gegenteil, wenn man sich die Wirklichkeit im Kosovo anschaut. Melancholische und freundliche Einwände von Ivan Ivanji
Als ich Anfang der Fünfzigerjahre zum ersten Mal in Berlin war, gab es noch keine Mauer. Ich wohnte im Osten der Stadt, weil es billiger war, in der Nähe des Alexanderplatzes, der damals so aussah, wie ihn Alfred Döblin beschrieben hat. Als Korrespondent einer jugoslawischen Jugendzeitung hatte ich kaum Geld, sondern Salami und Zwieback als Verpflegung mitgenommen und ein Zimmer bei einer alten Frau gemietet, die auch einem Roman Döblins hätte entsprungen sein können.
Die Nächte verbrachte ich im Westen der Stadt, fuhr stets am Morgen wieder mit der ersten S-Bahn „nach Hause“ in den Osten, um einige Stunden lang zu schlafen, aber das hatte keine ideologischen Gründe. Unter der Führung von Harry Ristock waren junge „Falken“ öfter in Jugoslawien gewesen, hauptsächlich Mädchen. Kann man „Falkinnen“ sagen? Eine besonders hübsche von ihnen hatte erklärt, ohne einen Mercedes würde sie ihre „Unschuld“ nicht hergeben. Später heiratete sie einen armen Lehrer. Eine andere war nicht so prüde, nennen wir sie die „Schöne Helena“. Mehrere Jahrzehnte später kam zu der Lesung aus meinem neuen Buch auch eine nette Oma. Sie wollte mit mir sprechen. Erst an ihrer Stimme erkannte ich sie. In der Erinnerung war meine Altersgenossin so geblieben, wie sie 35 Jahre früher ausgesehen hatte. So ist das mit Erinnerungen.
Auch mit meiner Erinnerung an Berlin. Seit dem ersten Besuch war ich fast jedes Jahr dort, manchmal auch mehrmals. Nachdem die Stadt durch die Mauer zerschnitten war, in beiden Teilen. Für mich als Inhaber eines jugoslawischen Passes war sie nicht unüberwindlich. Es machte mir sogar Spaß, den Grenzübergang Friedrichstraße zu Fuß zu passieren, was die DDR-Grenzpolizisten stets in Verwirrung brachte.
An den Besuch des persischen Schahs in Berlin kann ich mich erinnern. Junge Menschen protestierten gegen ihn, den sie für einen Diktator hielten, und dabei starb durch einen Polizeischuss der Student Benno Ohnesorg. Ich habe ihm und dem Berlin jener Jahre mit meiner Erzählung „Der Tod in Berlin“ zu ehren versucht. Dessen Tod, so jämmerlich und sinnlos, weil ja nach dem Sturz des Schahs ein viel schlimmeres Regime an die Macht kam, war gerade deshalb für mich ein Thema. Trotzdem möchte ich den Tod aller Menschen, die die Mauer überwinden wollten und das mit dem Leben bezahlten, nicht verdrängen.
Das alles ist für mich auch weiter eine Warnung, eine, die ich jetzt viel besser verstehe, seit die Serben die Parias der Welt geworden sind. Wie überheblich war ich als Titos Diplomat und Dolmetscher, der glaubte, sich alles erlauben zu können! Wie spielte ich mich eitel auf vor Schriftstellerkollegen aus der DDR! Und wie viel habe ich in Berlin erlebt. Günter Grass kennen gelernt und Helene Weigel. Auch Ulbricht, Honecker, Mielke und Konsorten. Ich stand hinter Titos Rücken, als er bei seinem ersten Berlinbesuch die Parade der Ehrenformation abnahm. Die Soldaten der Volksarmee sahen für mich in ihren Uniformen genau so aus wie die Wehrmacht Hitlers, die riesigen Blasinstrumente und der Schellenbaum erinnerten mich an Hitlers Regime. Und Tito auch. Es war für mich ein Augenblick erhabenen Triumphes, deutsche Soldaten grüßend vorbeimarschieren zu sehen.
Ich hatte mich schon an die Mauer gewöhnt, als ich zum ersten Mal mit meiner Frau wieder privat in Berlin war und ihr dieses schreckliche Bauwerk als eine Art Kuriosum „von beiden Seiten“ zeigte. Erst an ihrer Erschütterung, dass sich Menschen in der eigenen Stadt so etwas antun, kehrte das Gefühl der Verwirrung auch in mein Bewusstsein zurück.
Die Freude, als die Mauer fiel, hat auch mich ehrlich ergriffen. Ich empfand wirklich mit, wie Willy Brandt es ausgedrückt hatte, als er sagte, dass zusammengewachsen sei, was zusammen gehört. Und mich freut, dass der Befehl an deutsche Piloten, Belgrad wieder zu bombardieren, nicht Berlin belastet, weil er noch in Bonn erteilt wurde.
Das Berlin der Weimarer Republik habe ich nicht persönlich erlebt. Es ist bezeichnend, dass man diese Epoche nicht mit Berlin, sondern mit Weimar verbindet. Damals war der Ettersberg noch nicht durch das Konzentrationslager Buchenwald geschändet.
Dieses Berlin, in dem Piscator sein Theater hatte, Brechts „Dreigroschenoper“ uraufgeführt wurde, mit allen seinen Gastspielen, seinen Zeitungsredaktionen, seinen Verlagen, der Atmosphäre, die Tucholsky unter vielen Pseudonymen in der Weltbühne und seinen Büchern beschrieben hat – dieses Berlin glaube ich auch zu kennen. Doch wie wird sich Berlin als neue Hauptstadt Deutschlands in das Bewusstsein und in die Geschichte eintragen? So wie jenes der Zwanzigerjahre?
Für mich besteht da ein Problem. Im Kosovo kommandiert ein deutscher General. Wer sich in dieser Hinsicht an Geschichte erinnert, muss hinzufügen: „...wieder einmal!“ Nach der Kapitulation Italiens, das Kosovo im Zweiten Weltkrieg besetzt hielt, übernahm es die Wehrmacht. Zur Zeit werden aus dem Kosovo Serben und Roma vertrieben, verschleppt, getötet.
Addiert sind die Opfer der Serben viel „geringer“ als es jene der Albaner waren, prozentual gewaltiger. Im schlimmsten Augenblick während der Nato-Bombardements waren fünfzig Prozent aller Albaner vertrieben. Sie sind zurückgekommen. Gott sei Dank! Jetzt sind mindestens neunzig Prozent der Serben vertrieben. Sie werden nie mehr wiederkommen. Und die Roma!
Warum Roma? Fast möchte ich sagen, Juden sind keine da! Es erinnert mich an einen schrecklichen Witz: Jemand erzählt, es würden wieder Juden und Fahrradfahrer hingemordet, und man fragt verwundert: Warum Fahrradfahrer?
Ein ethnisch reines Kosovo und ein Albanien will die UÇK, bestehend aus allen Gebieten, in denen Albaner in der Mehrheit sind. Die Landkarte mit diesen Grenzen kennt man in Berlin. Und die UÇK sagt, wenn sich die Deutschen vereinigen durften, warum nicht wir? Der Nato-Krieg gegen Restjugoslawien wurde angeblich geführt, weil Menschenrechtsverletzungen nicht mehr hinzunehmen waren.
Jetzt steht die KFOR unter dem Kommando eines deutschen Generals – dessen Minister in Berlin sitzt – Gewehr bei Fuß und schaut ohnmächtig zu, wie jeden Tag – jeden Tag! – die selbe Art von Menschenrechtsverletzungen begangen wird. Jetzt aber in Anwesenheit von Truppen aus demokratischen Ländern, darunter deutsche Truppen.
Zweimal nacheinander fährt der deutsche Innenminister von Berlin nach Priština und lässt sich berichten. Und was unternimmt er? Hat man ihm gesagt, das seien einzelne Racheakte? Dann hat man ihn belogen, er soll sich die Zeitung Koha ditore übersetzen lassen, deren mutige Gestalter, Gründer und Herausgeber, Veton Suroi und Chefredakteur Baton Haxhiu, klagen: „Was ist mit der albanischen Moral passiert?“ Für Berlin wäre es nützlich, nachzuschlagen, was Bismarck anlässlich des Berliner Kongresses 1878, als die Wünsche der Liga von Prizren, die die UÇK jetzt erfüllen will, schon auf dem Tisch lagen, gesagt und getan hat, um danach als „ehrlicher Makler“ in dieses Kapitel der Geschichte einzugehen.
Ich sehe aber auch etwas, was die meisten Deutschen nicht wahrhaben wollen. Vor der Vereinigung der beiden aus der Niederlage im Krieg hervorgegangenen deutschen Staaten auf der Grundlage des westdeutschen Grundgesetzes (das ich für eine der besten Verfassungen der Welt halte) zeigte die Landkarte für die Wettervorhersage im deutschen Fernsehen das Wetter in den Grenzen von 1937. Seither nicht mehr. Erst seither geht die deutsche Meteorologie von der Tatsache aus, dass, was Deutschland früher als seinen Osten empfand, unwiderruflich verloren ist. Unwiderruflich? Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass Jugoslawien auseinander fällt, warum sollte es unmöglich sein, dass Kaliningrad wieder Königsberg heißt?
Die Mauer aus Stein und Beton ist gefallen. Eine neue, auf den ersten Blick unsichtbare, aber nicht weniger schwer zu überwindende ist aus Papier mit Stempeltinte errichtet worden – die Grenzen von Schengenland. Der Eiserne Vorhang ist verrostet in sich zusammengefallen, der Wall aus abgewiesenen Visaanträgen ist genau so hart.
Die verbrecherischen Menschenschlepper, die Flüchtlinge in den Westen lotsen, üben dasselbe Handwerk aus wie Organisationen, die fluchtwilligen Ostdeutschen geholfen haben. Für die Deutschen ist die Welt vor zehn Jahren schöner geworden.
Jetzt sollte man an jene denken, denen es nicht so gut geht.
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