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■ 10 Jahre Postkommunismus (1): Polen hat heute nur noch wenig mit dem Land vor 1989 zu tun. Ein Blick auf Verlierer und GewinnerEine Gesellschaft im Aufbruch

Anders als die Deutschen haben die Polen einige Schwierigkeiten mit der Festlegung ihres Wende-Datums. Denn anders als in Deutschland war das Abschütteln des Kommunismus hier ein langer und dramatischer Prozess.

Das Jahr 1989 begann schon im Sommer 1988 – mit einer großen Streikwelle und dem Comeback der seit 1981 verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc. Es folgten die Ankündigung des Runden Tischs, das dramatische Plenum der regierenden PVAP mit dem erpresserischen Rücktritt der Reformer und ihrem anschließenden Sieg über die Betonfraktion. Konsequenzen: die am Runden Tisch ausgehandelten halb freien Wahlen und der furiose Sieg der Solidarnosc, Adam Michniks bahnbrechendes Angebot „Euer Präsident, unser Ministerpräsident“ und – nach einem langen Patt – die Wahl Tadeusz Mazowieckis zum ersten nicht kommunistischen Regierungschef im Ostblock. Im November 1990 endlich löste Lech Walesa General Jaruzelski als Staatspräsident ab. 1989, das Jahr der Wende, dauerte in Polen also fast zweieinhalb Jahre.

Trotzdem nennt heute in Polen kaum einer diese zwei Jahre eine Revolution. Keine Stadt – nicht einmal Gdansk, die Wiege der Solidarnosc – wird mit Heldenstadt-Emblemen behängt. Und da in Polen auch nichts dem unverhofften Geschenk der Maueröffnung Ähnliches geschah, fällt die Inszenierung des zehnten Jahrestags der „Wende“ viel bescheidener und beliebiger aus als in Deutschland, wo am 9. November wohl der Mythos der „ersten erfolgreichen deutschen Revolution“ am Altar zusammengeklaubter Mauerreste zelebriert werden wird.

In Polen wurde der 4. Juni 1989 zum Symboltag für den Wechsel der Zeitenrechnung gewählt. An diesem Sonntag, an dem in Peking die streikenden Studenten von Panzern massakriert wurden, fanden hier jene Parlamentswahlen statt, deren historische Tragweite damals nicht etwa ein Politiker oder Historiker, sondern eine etwas kauzige Schauspielerin im Fernsehen offenbarte. Teils verspielt, teils salbungsvoll erklärte sie damals, heute sei in Polen der Kommunismus gestorben.

Tatsächlich ist Polen zehn Jahre danach ein anderes Land. Alle Koordinatensysteme haben sich geändert, von der Geopolitik über die innenpolitische und wirtschaftliche Struktur bis hin zum kulturellen Selbstverständnis.

Anders als die Deutschen benennen die Polen ihre Republik nicht nach der Hauptstadt, sondern zählen sie als die Dritte. Damit bezieht man sich nicht nur auf die republikanische Tradition Vorkriegspolens, sondern auch auf die alte Adelsrepublik des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die 1944 von Stalin geschaffene, nur halb souveräne Volksrepublik dagegen wird aus der Tradition gestrichen. Auch mit der Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit gingen die Polen lascher und nachsichtiger um als die Deutschen. Der Zersetzungs- und Wandlungsprozess des alten Systems dauerte in Polen länger und verlief kooperativer als in der DDR.

Daher waren auch die politischen Biografien der führenden Politiker der „ersten Stunde“ schillernder und vielschichtiger als bei den westlichen Nachbarn.

Die Politik des „Schlussstrichs“, für die Tadeusz Mazowiecki 1989 plädierte, sollte die Polen für den enormen Kraftakt der Transformation und Modernisierung mobilisieren, statt sich in den Schlammschlachten gegenseitiger Abrechnungen aufzureiben. Wollte man das heutige Polen „zehn Jahre danach“ mit der Bundesrepublik Ende der 50er vergleichen, dann müsste sich gerade eine „skeptische Generation“ zu einer baldigen und heftigen Jugendrevolte anschicken. Das ist aber nur zum Teil der Fall. Einen Generationskonflikt gibt es zwar, doch seine Stoßrichtung ist weniger politisch oder ideologisch, weil – noch ein Unterschied zum wiedervereinigten Deutschland – die Ikonen der florierenden polnischen Wirtschaft dieses Jahrzehnts vor allem smarte, junge, weitgehend apolitische, erfolgreiche Manager und Kleinunternehmer sind.

Polen ist ein Land der jungen Menschen. Die Einwohnerzahl stagniert in den 90ern zwar bei 39 Millionen, doch die geburtenstarken Jahrgänge der 70er- und 80er-Jahre beherrschen das Straßenbild. Ihre Lebenserwartung und ihr Bildungsniveau nehmen in der Dritten Republik statistisch zu.

Andererseits ist Polen nach wie vor bäuerlich geprägt. Etwa 38 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Lande, zwei Drittel der Bauern sind in erster Linie Selbstversorger. Ihre Einkünfte liegen etwa auf der Höhe der Arbeitslosenunterstützung. Man schätzt, dass nur ein Drittel der etwa zwei Millionen Höfe den EU-Beitritt überleben werden. Auch die Arbeiter – einst nominell tragende Klasse im Kommunismus – sind nun die Verlierer der Umgestaltung. Sie sind eine starke Pressuregroup und mögen mit Streikbewegungen ganzer Branchen die Privatisierung verlangsamen – doch bremsen können sie den Wandel nicht. Die Intelligenz wiederum hat ihre Rolle als Gralshüter und Sinnstifter der gesellschaftlichen Bewegung eingebüßt. Dafür sind neue Schichten entstanden, vor allem der Mittelstand, eine inzwischen zahlenmäßig starke Unternehmerschicht und darunter nicht wenige Frauen.

Die Verlierer und die Gewinner der Transformation halten sich also die Waage. Dabei bilden jene, die weiterhin hoffen, dass sie selbst oder zumindest ihre Kinder den Sprung nach oben noch schaffen können, vorerst die tragfähige Mitte der Gesellschaft. Politisch ist diese auf die Kohabitation der beiden großen Lager – der Post-Solidarnosc und der Postkommunisten – angewiesen, wobei beide Begriffe an Relevanz verlieren: Zu viele der Kombattanten von 1989 haben in Folge von Walesas Politik mittlerweile mehrmals die Fronten gewechselt.

Polen häutet sich in allen Bereichen. Und je mehr das der Fall ist, desto stärker versuchen sich die einen an die Tradition des alten polnischen Selbstverständnisses zu klammern, während die anderen sich demonstrativ von allem, was nach „Polnisch-Allzupolnischem“ riecht, abwenden. Die katholische Kirche, hier zu Lande seit eh und je mächtig, befindet sich in einer Zwickmühle. Der jüngste Besuch des Papstes war zwar wieder mal ein Triumphzug, doch die innere Spaltung im polnischen Katholizismus in eher xenophobe Traditionalisten und weltoffene Modernisierer ist unverkennbar.

So zeigt auch die jahrelange Propaganda des katholisch-nationalistischen Flügels der Solidarnosc Wirkung. Zudem haben die Angst vor Modernisierung, vor subventionierten EU-Agrarprodukten und mangelnden Chancen für polnische Produkte auf dem EU-Markt und die Rückgabe- und Entschädigungsforderungen deutscher Vertriebener die Unterstützung für den EU-Beitritt in Polen auf magere 55 Prozent sinken lassen. Das rechtsliberale Regierungslager, von Hinterbänklern in den eigenen Reihen blockiert, hat nicht den Elan, das Blatt zu wenden, was wiederum dem postkommunistischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski die Chance bietet, sich als verlässlicher Europapolitiker zu profilieren. Selbst der Papst, der Kwasniewski vor den Augen der Nation in sein Papamobil einlud, hat ihm Wahlhilfe geleistet – und zugleich den Solidarnosc-Konkurrenten brüskiert.

Zehn Jahre nach dem Umbruch steht Polen immer noch an einem Scheideweg. Vor zehn Jahren hatte es noch die Wahl zwischen vier Wegen: dem finnischen: Mitgliedschaft in der EU, aber nicht der Nato; dem weißrussischen: weder noch; dem türkischen: Nato-, aber nicht EU-Mitgliedschaft; und dem deutschen: sowohl als auch. Heute befindet sich Polen in der Mitte zwischen dem türkischen und dem deutschen Weg.

Noch kann man darüber streiten, ob der point of no return der EU-Osterweiterung tatsächlich schon überquert und es nur mehr eine Frage der Zeit ist, wann die Oder-Neiße-Grenze allein eine administrative Linie in den Atlanten der EU sein wird. Die Westerweiterung des polnischen Bewusstseins erfolgt langsamer als die der polnischen Realität und zumal der polnischen Wirtschaft. Wenn Polen die bisherige Wachstumsrate um fünf Prozent hält, könnte man ein gewisses Klammern an die Vergangenheit als psychologische Absicherung einer Gesellschaft im Aufbruch ansehen.

Die Erste polnische Republik bestand zweihundert Jahre, die Zweite zwanzig, die Dritte ist gerade erst zehn, hat aber die Chance, im 21. Jahrhundert als „Teilrepublik der EU“ diese nicht nur mitzugestalten, sondern mit ihr zusammen ein aktiver Partner im globalen Wettbewerb zu werden. Adam Krzeminski

Hinweise:Das Vorbild von heute ist der junge, apolitische und erfolgreiche ManagerNur ein Drittel der zwei Millionen Bauernhöfe wird den EU-Beitritt überleben

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