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Als Sarah das erste Mal landete

■ Die Bremer Schrei-Ambulanz bietet „emotionelle erste Hilfe für Eltern und Säuglinge in Not“: Diplom-Psychologe Thomas Harms hilft dabei, dass Schreibabys aufhören zu schreien und in der Welt ankommen

Sarah lacht, schaut, grinst – und schmiegt sich bei Mama an. Ganz ruhig. Sanft. Ohne Quengelei. Sarah ist ein Schreibaby – zumindest war sie es mal. Von zwölf Uhr mittags bis zwölf Uhr nachts – mit krauser Stirn, zusammengekniffenen Augen und jeder Menge Schrei-Krawall. Sarah war nie wirklich zu beruhigen. Nur etwas – durch ständiges Herumtragen, Schuckeln und wieder im Kreis herumtragen.

„Typisch Kolik-Kind“, sagten damals alle zu Sarahs Eltern Charlotte und Stefan (Namen geändert). „Da müssen wir wohl durch“, sagten sie sich selbst. Und gaben Kräuter und Öle gegen Bauchschmerzen und Blähungen. Aber Sarah weinte weiter, „war völlig außer sich und lehnte jede Berührung ab“. Bis Mutter Charlotte so fertig war, dass sie ihre eigene Mutter um Hilfe bat. Sie kam – und Schreibaby Sarah schlief in Großmutters Armen ein. „Da merkte ich plötzlich, dass das auch etwas mit mir zu tun hat.“

Dieses Gefühl ist vier Monate alt. Dazwischen liegen sechs Sitzungen in der Bremer Schrei-Ambulanz bei Diplom-Psychologe Thomas Harms. Er gibt „Emotionelle Erste Hilfe für Eltern und Säuglinge in Not“ – fernab von Kolik-Diagnosen, Kräuter-Gaben und Ratschlägen, mit dem Schrei-Kind um die Häuserblöcke zu fahren. „Diese Eltern brauchen keine gutgemeinten Ratschläge“, sagt er, „sie funktionieren nämlich meistens nicht“.

Denn das Problem liegt oftmals tiefer, sagt Thomas Harms. Entdeckt hat er das Schritt für Schritt während einem Forschungsprojekt mit Kaiserschnittpatienten und der sukzessiven Beobachtung von Schrei-Babys und ihren Müttern. Und immer wieder stieß er dabei auf folgendes Phänomen: Mütter und Kinder hatten eine schwere Geburt durchgemacht – oder eine Trennung kurz danach.

Die Folge: Die Babys geraten durch Presswehen oder Feststecken im engen Geburtskanal enorm unter Stress und werden in ihrem Schock nach der Geburt irgendwie nicht aufgefangen – weil die Mütter selbst noch nicht fit sind und angeschlagen. „Der Draht ist nicht da“, das für's Baby nötige „haltende Umfeld“ fehlt – und die Babys geraten irgendwann „völlig außer sich“: Der Schreibaby-Teufelskreis beginnt. Und Mutter und Kind sind irgendwann ständig auf der Flucht vor einander und sich selbst.

Sarah schrie irgendwann nur noch „wie im Spieß“. „Sie konnte einfach nicht richtig landen“, sagt Mutter Charlotte heute, „weil ich selbst noch nicht richtig da war“: Zwei Wochen nach der Geburt noch starke Schmerzen. Eine letzte Geburtsphase, die „enorm schwierig“ war. Richtig bewusst war ihr das aber erst nach Gesprächen mit Thomas Harms in der Schrei-Ambulanz – als Sarah dort bei ihr zum ersten Mal „landete“.

Mitten auf dem Bauch, schreiend „wie am Spieß“ – aber nach etwa acht Minuten ganz ruhig ohne die sonst übliche Beruhigungstaktik – durch körpertherapeutische Übungen, die der Diplom-Psychologe bei allen Müttern und Kindern anwendet. „Wir durchbrechen einfach den Teufelskreis von schreien, weglaufen, Schreien – und setzen uns einfach.“ Und zwar ruhig angelehnt an die Wand oder still in die Ecke. Das Baby liegt schreiend auf dem Bauch, aber die Mütter laufen nicht weg sondern bleiben – und lassen das Kind per ruhiger Bauchatmung landen.

Eine Übung, die auch Kinderärzte wie Volker Rongen aus Bremen-Walle gutheißen. „Es geht erstmal darum, den Teufelskreis irgendwie durchzuschlagen“, sagt der Mediziner, der sich mit der Methode von Thomas Harms beschäftigt hat. „Oft hilft schon ein klärendes Gespräch, warum sich das alles so hochgeschaukelt hat.“ Die Eltern werden ruhiger – und das Baby findet einen Weg aus dem festgefahrenen Stresszustand.

Von „Pauschalierung“ indes hält Kinderarzt Rongen wenig: „Nicht jedes Kind, das schreit, hat eine schwierige Geburt durchgemacht“. Auch „medizinische Gründe“ müssten abgecheckt werden: Oft kann eine banale Milchallergie - oder Unverträglichkeit schon das Schreien verursachen. Das alles aber – von der Untersuchung bis hin zu mehrmaligen klärenden Gesprächen mit den Eltern über mögliche Ursachen – brauche „viel Zeit“. Und die müsse man sich als Kinderarzt eben oft „aus den Rippen schneiden.“

Die Bremer Schreiambulanz dagegen bietet diese Zeit – und zugleich logische Erklärungen und Hilfen. Als Grundlage dienen körperpsychotherapeutische Methoden des Freud-Schülers und Säuglingsforschers Wilhelm Reich. „Diese Theorie hat sich in der Praxis bewährt“, resümiert Sarahs Vater – selbst Mediziner.

Kurzum: Mutter, Vater, Kind sind locker, der Knoten ist geplatzt. Sanfte Babymassagen entspannten Baby und Mutter. Der gestresste Darm wurde ruhiger, die Blähungen ließen nach. Und trotzdem denkt Mutter Charlotte noch manchmal: „Wenn ich das bloß alles vorher gewusst hätte.“ Aber da stoppen Kinderarzt Rongen und Diplom-Psychologe Harms: Schuldfragen sind überhaupt nicht angesagt. Denn: Wer macht das schon auf Anhieb perfekt, die Kontaktaufnahme zum eigenen Kind?

Katja Ubben

Die Schrei-Ambulanz Bremen sitzt in der Parkstr. 50, Tel.: 349 12 36. Kosten sind privat zu zahlen – nach Einkommen gestaffelt.

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