: Hase fühlt sich als Igel
Klaus Müller, Leiter des Dopinglabors in Kreischa, ist überzeugt, sich hart auf den Fersen sportlicher Sünder zu befinden ■ Von Frank Ketterer
Kreischa (taz) – Über Probe Nummer 90070 ist nicht viel bekannt. Ein Kurierdienst hat sie kurz vor Mittag angeliefert, verpackt in zwei Plastikcontainer, die aussehen wie Miniaturmülltonnen, die eine gelb, die andere grün und beide versiegelt. Auf dem Durchschlag des mitgelieferten Protokolls finden sich nur zwei spärliche Angaben: „DLV“ steht dort, darunter „weiblich“. „Wir wissen nicht, wer hinter einer Probe steckt“, sagt Professor Klaus Müller, Leiter des Instituts für Dopinganalytik und spezielle Biochemie in Kreischa. Für seine Arbeit interessiert es auch nicht: Bei der Suche nach unerlaubten Stoffen im Urin ist es völlig egal, ob dieser von einer Hochspringerin stammt oder einem Turner, von einer Schwimmerin oder einem Radfahrer. Alle kommen sie als Nummer, als Nummer gehen sie alle auch wieder. Vor Müller (62), das darf man ruhig behaupten, sind alle gleich.
„Jeder Befangenheitsvorwurf prallt somit von uns ab“, sagt der Institutsleiter. Das ist ihm wichtig, schließlich konnte in Kreischa, einem kleinen Ort südlich von Dresden, von glaubwürdiger Dopinganalytik nicht immer die Rede sein. 1977 als Zentrales Dopingkontrolllabor (ZDKL) des Sportmedizinischen Dienstes der DDR gegründet, spielte das Institut seine Rolle als gut funktionierendes Rädchen im Staatsdopingbetrieb DDR stets zuverlässig.
Probe Nummer 90070 wird, nachdem die Unversehrtheit der Kleincontainer überprüft wurde, erst einmal auf ihre Beschaffenheit untersucht, auf Dichte und pH-Wert. Das hat schon der Kontrolleur bei der Probenahme getan, die Wiederholung am Institut soll eventuelle Manipulationen während des Transports aufdecken. Gleichzeitig wird festgestellt, dass sich im gelben und im grünen Container der gleiche Urin befindet. Grün ist die A-Probe, die zur Untersuchung herangezogen wird, gelb die B-Probe, die in einem Gefrierschrank verschwindet und nur dann wieder aufgetaut und analysiert wird, wenn die A-Probe positiv ist. 36 Mal trat dieser Fall 1998 im Bereich des deutschen Sports ein, bei 6.829 in den Labors in Kreischa und Köln untersuchten Proben macht das 0,53 Prozent. Von 4.037 deutschen Trainingskontrollen im Vorjahr waren sechs positiv, der Rest der Proben wurde bei Wettkämpfen genommen. Bei den in Köln und Kreischa getesteten 3.872 internationalen Kontrollen waren dagegen 71 (1,83 Prozent) positiv. Um wen es sich bei den ertappten Sündern handelt, erfahren auch die Dopingfahnder nur aus den Medien. Dann nämlich, wenn der zuständige Verband informiert wurde, dieser die Kontrollnummer decodiert hat und der betroffene Athlet namentlich bekannt gegeben wird.
Dass eine positive A-Probe durch eine negative B-Probe widerlegt wird, schließt Müller nahezu aus. „Das wäre eine Katastrophe“, sagt er. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch Probe Nummer 90070 negativ getestet wird, ist groß. Dass sie frei von jeglichen Betrugsstoffen ist, wird dadurch dennoch nicht bewiesen. „Es gibt Substanzen, bei denen der Beweis einer Zufuhr von außen noch nicht möglich ist“, sagt Müller. Der Mann im weißen Kittel legt die Stirn in Falten, wenn er von diesen Substanzen spricht: Erythropoietin etwa, kurz Epo genannt, sowie bestimmte Wachstumshormone. Beide sind körpereigene Stoffe, mit den Mitteln der Labors bisher nicht identifizierbar.
Probe Nummer 90070 ist im Nasslabor angelangt, das aussieht wie eines jener Chemielabors aus der Schulzeit, nur dass es natürlich viel größer ist und nicht so aufgeräumt. In der Regel werden die Wirkstoffe, die man nachweisen möchte, durch eine so genannte Extraktion aus dem Urin isoliert. Soll heißen: Mit einem Lösungsmittel – Äther ist hierfür sehr beliebt – oder per Festphasenextraktion – das geschieht in einer kleinen Glassäule – werden die interessierenden Stoffe weitgehend vom biologischen Material, dem Urin, abgetrennt. Durch diese zum Teil chemische Manipulation des Urins erhält man Extrakte mit den zu untersuchenden Substanzen. Diese werden in fingerkuppengroße Fläschchen gefüllt; jede Urinprobe, auch Nummer 90070, füllt sechs dieser Fläschchen.
Nach wie vor lässt sich die Zu fuhr von Epo nur indirekt erfassen und das auch nur über das Blutbild eines Sportlers, das bei der eigentlichen Dopinganalyse nicht untersucht wird. So hat der internationale Radsportverband UCI für seine Profis zwar einen Grenzwert beim Hämatokrit von 50 Prozent festgelegt und verhängt beim Überschreiten kurzfristige Sperren zum „Schutz der Gesundheit“. Um eine im wissenschaftlichen Sinne hieb- und stichfeste Nachweismethode handelt es sich dabei freilich nicht. „Durchaus für machbar“ hält es Müller, dass Athleten den leicht ermittelbaren Hämatokritwert stets geschickt gesteuert unter dem erlaubten Grenzwert halten. Dass die gesamte Dopinganalytik dadurch unglaubwürdig gemacht wird, will der Institutsleiter nicht bestätigen. „Wenn eine Kontrolle richtig durchgeführt wird“, entgegnet er solchen Vorwürfen, „dann kann sie eine ganze Menge von Missbrauch, nämlich den größten Teil, aufdecken.“
Müller denkt dabei in erster Linie an Testosterone, Anabolika und Stimulanzien, Stoffe, die er „die klassischen Dopingmittel“ nennt, seit Jahrzehnten bekannt und so gut wie mühelos nachweisbar. „Das leisten unsere Instrumente quasi nebenher“, preist Professor Müller den Stand der Analysetechnik, selbst bisher unbekannte Stoffe könnten relativ rasch als auffällig erkannt und identifiziert werden.
Es sei jedenfalls keinesfalls so, wie oftmals behauptet werde: dass die Dopingkontrollen der Dopingwirklichkeit stets hinterher laufen. „Hase-und-Igel-Parabel“ nennt Müller dieses Bild, als „übertrieben und bar jeder Grundlage“ empfindet er es.
Zudem kämen nicht so viele neue Wirkstoffe auf den Markt, als dass sie die Dopinganalytiker vor unlösbare Aufgaben stellen würden. „Lediglich gewisse Problemstoffe, und da gibt es glücklicherweise nur eine Hand voll“, sagt Müller, „bereiten uns Schwierigkeiten.“ Das ist der Punkt, an dem die Forschung gefragt ist. „Letztendlich geht es nur noch darum, wer den Stein der Weisen findet“, glaubt Müller.
In Kreischa gestalten sich die Rahmenbedingungen zur Forschung einigermaßen schwierig, zu beschränkt sind die Kapazitäten. „Viel mehr als 20 Prozent unserer Arbeit ist es nicht, weil die Routine, die Analyse also, uns schon weitgehend absorbiert“, sagt Müller. Die zur Forschung notwendigen Apparaturen sind zwar vorhanden und auch die finanzielle Ausstattung durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Köln mit jährlich 700.000 Mark empfindet Müller als „unproblematisch stabil und nicht zu knapp“. Am Personal für zeitaufwändige Forschung aber mangelt es. Derzeit arbeiten drei Vollzeit- und zwei Halbzeit-Chemiker sowie drei Laborantinnen und eine Sekretärin am Institut.
Probe Nummer 90070 erreicht ihre letzte und entscheidende Station. Auf die in sechs Fläschchen abgefüllten Extrakte warten acht Prozeduren, in denen sie auf Anabolika, Stimulanzien, Narkotika, Diuretika, Betablocker und Steroide untersucht werden. Die Vorgehensweise ist immer gleich: Ein sogenanntes Trennverfahren wird mit einem Identifikationsverfahren kombiniert. Zur Trennung wird entweder Gas (gaschromatographisches Prinzip) oder eine Flüssigkeit (bei der Hochdruckflüssigkeitschromatographie) verwendet, zur Identifikation meist das Prinzip der Massenspektrometrie, mit der den Stoffen eine Art Fingerabdruck entnommen wird. Die einzelnen Schritte finden in unförmigen grauen Kästen statt, angeschlossen an Computer und automatisch arbeitend. Auf ein paar 100 Substanzen hin werden die Extrakte überprüft, rund 100 Messwerte, ebenso viele kleine Diagramme stehen am Ende der Analyse und warten auf die Auswertung durch einen Chemiker.
Die Diagramme von Probe Nummer 90070 zeigen keine Abweichungen. Sie ist negativ.
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