■ 180.000 Menschen hat Russlands Militärmaschine aus Tschetschenien in die Nachbarrepublik Inguschetien vertrieben. Dort kommen in den Krankenhäusern fast ausschließlich Frauen und Kinder an Aus Inguschetien Klaus-Helge Donath: Zum Sterben wollen sie nach Hause
Vor dem Zug sind dutzende von breiten Betonquadern in mehreren Lagen übereinander getürmt. „Es war das erste, was sie gemacht haben“, erzählt die Ärztin im Flüchtlingslager Karabulak in Inguschetien von den hunderten Flüchtlingen, denen die Waggons als Notlager dienen. „Das Trauma, man könnte sie noch einmal über Nacht in aller Stille nach Sibirien oder Mittelasien deportieren, wie es Stalins Schergen 1944 taten, hat sich tief ins Unterbewusstsein eingefräßt.“
Zum vierten Mal in diesem Jahrhundert stehen sich Tschetschenen und Russlands mörderische Militärmaschinerie gegenüber. 180.000 Menschen haben nach Angaben des inguschetischen Migrationsdienstes in der Nachbarrepublik schon Zuflucht gesucht. „Weitere hunderttausend“, schätzt Hussein Osdoje, Chef der Flüchtlingskoordination in Nazran, „warten noch auf die Ausreise.“ Auf 40 Kilometer soll der Treck auf der tschetschenischen Seite der Grenze angewachsen sein, seitdem die Russen das einzige Schlupfloch für die Zivilbevölkerung am 23. Oktober zugemacht haben.
Seither wird unter freiem Himmel geboren und gestorben. Das ganze Ausmaß des Elends kennen nur die Militärs. Denn Russland führt diesen Vernichtungsfeldzug unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Lediglich eine journalistische Soldateska begleitet den Vormarsch und überschüttet die Generalität allabendlich im Sowjetstil mit triefenden Elogen. An der Medien- und Heimatfront führt Moskau einen aseptischen Krieg, dessen mediale Inszenierung es der Allianz im Kosovo abgeschaut hat.
In Inguschetien, der einzigen Republik der Russischen Föderation, die die Notleidenden nicht zurückweist, lässt sich das grauenhafte Ausmaß der Tragödie erahnen.
Tagelang stehen Tausende bei Wind und Wetter an dem Kontrollpunkt, den die Armee Kilometer vor der Grenze errichtet hat, damit keiner dem Geschehen zu nahe kommt. Seit mehr als einer Woche wird die verzweifelte Menge hingehalten. Die einen warten auf ihre Verwandten, die sie zurücklassen mussten, andere wollen trotz aller Gefahren wieder nach Hause. Aischa hatte ihre beiden Nichten zu Verwandten im Westkaukasus in Sicherheit gebracht. „Eine Odyssee, sie haben uns aus Bussen und Zügen herausgeholt und wie Vieh behandelt.“ Als sie zurückkam, war der Korridor geschlossen. „Bevor ich wie ein Tier lebe und langsam krepiere, gehe ich zurück. Ich lasse mich nicht erniedrigen und sterbe lieber zu Hause“, sagt die junge Frau emotionslos.
Das Leiden ist lange gereift. So wie sie, reagieren viele. Andere haben noch Hoffnungen. Am Montag öffnet die Armee den Korridor. Zwei Busse bis zum Bersten überladen stehen am Kontrollpunkt bereit. Ausgestreckte Arme reichen flehend Pässe in die Fenster. Nur mit ihren Papieren können die zurückgebliebenen Angehörigen Tschetschenien verlassen. Wenn überhaupt.
Zwei Autobusse fahren am vergangenen Montag tatsächlich nach Grosny. Aus der Gegenrichtung kommen den ganzen Tag über gerade mal siebzig Familien.
Als erstes schiebt sich nach Stunden ein weißer Mercedes über die Demarkationslinie. Eine gelungene und zynische Inszenierung der Militärs, die den Krieg gegen die Zivilbevölkerung unter dem fadenscheinigen Deckmantel der Terrorismusbekämpfung führen, aber ein ganzes Volk zu Verbrechern stempeln. Nach dem Motto: „Schaut doch hin, die armen Tschetschenen fliehen im Mercedes. Ob sie den wohl ehrlich erworben haben?“
Gleichzeitig soll das makabre Spektakel Russlands Premierminister Wladimir Putin Rückendeckung geben. Am Abend trifft er sich in Oslo auf dem Nahostgipfel mit den führenden Politikern der westlichen Welt, die gelegentlich ihr Unbehagen über die grobschlächtige Vorgehensweise des russischen Schuldners hatten anklingen lassen.
„Sie richten ein ganzes Volk zugrunde und lassen die Verbrecher entkommen“, sagt Wacha, der 25 Jahre in Russland als Maurer gearbeitet hat. Nur mit Mühe unterdrückt er die Tränen und wendet sich ab. Alle stimmen hier das gleiche Klagelied an, doch ihren Stolz bewahren sie sich.
In Schwärmen stürzen sich die Flüchtlinge auf Westjournalisten, um sich ihre Geschichte von der Seele zu reden. Sie ahnen es, im Vergleich zum letzten Krieg von 1994 bis 1996, als auch die russische Presse das Morden verdammte, haben sie in den wenigen Journalisten heute nur schwache Anwälte. Dennoch sind sie ein Fünkchen Hoffnung ...
Wie Wacha nimmt auch Mufti Habib Elscherkiew, der zweite Mann der islamischen Geistlichkeit in Inguschetien, kein Blatt mehr vor den Mund und spricht aus, was alle denken: „Es ist ein Vernichtungskrieg, ein Genozid an einem Volk, den wir nicht mehr länger schweigend hinnehmen können.“ Diplomatisch weist der Mufti Vermutungen zurück, Russland führe im Kaukasus einen Krieg gegen den Islam. Dass Moskau und die wahhabitischen Extremisten indes unter einer Decke stecken, daran scheint er nicht mehr zu zweifeln. Eindrücke aus den ersten Kriegstagen in Dagestan nähren ungeheuerliche Vermutungen: „Wo Banditen waren, wurde nichts beschossen. Wo sie auftauchten, war die Bevölkerung sicher. Sobald sie abzogen, hat die Armee das Feuer auf die Dörfer eröffnet“, behauptet der Mufti. Es klingt wie eine Verschwörungstheorie.
Ähnliche Erfahrungen haben indes etliche Flüchtlinge unabhängig voneinander gemacht, die Grosny erst vor kurzem verlassen haben. Russlands Staatsfeind Nummer eins, Schamiil Bassajew, dem der Kreml die bestialischen Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau zur Last legt, ohne bisher einen einzigen Beweis geliefert zu haben, konnte sich in Tschetschenien frei bewegen. Erst nachdem er vorletzte Woche sein Haus in Grosny sicher verlassen hatte, wurde es von einer russischen Rakete in Schutt und Asche gelegt. Keinen einzigen der Rädelsführer der islamischen Extremisten, die im August in Dagestan eingefallen waren und einen Gottesstaat ausriefen, hat das russische Flächenbombardement bisher ausschalten können. Bassajew, ein kaukasischer Siegfried, der unverwundbar jeder Attacke entkommt?
An Zufall glauben nur wenige. Russische Kameras suchen nach gefallenen Freischärlern wie nach Nadeln im Heuhaufen. Stattdessen dürften die Verluste unter der Zivilbevölkerung inzwischen zweitausend erreicht haben.
Wer es bis in das Krankenhaus in Slipzovsk, wenige Kilometer hinter der Grenze schafft, hat großes Glück gehabt. Die Verwundeten liegen dicht an dicht. Sie sind zusammengepfercht bis auf die Korridore. „Ist das ein Terrorist?“, fragt Leila aus Nowoj Scharoj verzweifelt und zieht die Bettdecke von ihrem Sohn weg. Dem 13jährigen wurden beide Füsse amputiert. Splitter einer Bombe hatten seine Beine durchsiebt. Zwei Tage hat sich die Mutter zum Krankenhaus durchgeschlagen. Hätten die Militärs sie sofort durchgelassen, wäre Jussup das Schicksal eines Krüppels vielleicht erspart geblieben. Mutter Leila sorgt sich inzwischen um ihre beiden kleinen Töchter, die sie bei Nachbarn in Obhut gegeben hat. Doch der Rückweg ist ihr versperrt ...
Die Verwundeten sind fast ausschließlich Frauen und Kinder. Krankenschwester Assja erzählt unterdessen etwas, was man nicht glauben möchte. Die Krankenhäuser in den angrenzenden Regionen würden sich weigern, Verletzte aufzunehmen. Eine Anweisung aus Moskau? Assja weiß es nicht, doch das einmütige Verhalten verweist auf einen stillschweigenden Konsens. Selbst Hospitäler, die zunächst bereit gewesen seien, hätten einen Rückzieher gemacht. Indizien, die das wahre Kriegsziel der russischen Armee, die Dezimierung eines Volkes, erkennen lassen.
„Europa verlangt von Moskau, die Todesstrafe abzuschaffen, um es in den Europarat aufzunehmen“, meint Mariett Monarjewa, eine alte Frau aus Grosny. „Ist Europa der Vollzug der Todesstrafe an einem ganzen Volk egal?“
„Kampf gegen Terrorismus“, erzürnt sich der Präsident der Republik Inguschetien Ruslan Auschew, „organisiert man anders.“ Für den General der russischen Armee und Afghanistanveteranen steht eins fest: „Nichts ereignet sich in Russland zufällig, davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Wegen seiner Offenheit wird der Präsident von Medien und Politikern gemieden. Verunglimpfung russischer Interessen wirft man ihm vor. Es riecht nach Volksfeindideologie.
Ein russisches Fernsehteam erscheint zum Ortstermin. Ironisch begrüßt der General die Journalisen des Privatsenders NTW: „Sie werden auch zensiert ?!“ Am Abend denn auch kein Wort der kritischen Botschaft. Auschew ist überzeugt, die Terrorbekämpfung sei nur ein Vorwand für Moskauer Machtspiele und Intrigen. Die Gefahr des Terrorismus hätte man seit Jahren erkannt, Vorhaben, Orte und Ziele der Terroristen seien bekannt gewesen: „Warum hat man sie nach Dagestan rein- und unbehelligt wieder rausgelassen ?“
Riesig enttäuscht ist Auschew über die sogenannten Demokraten, die es nicht wagen, der Hetze des Staatsapparates und den dumpfen Sehnsüchten der Massen entgegenzutreten. Im Gegenteil sie stoßen ins gleiche Horn. Auf dem kaukasischen Schlachtfeld führt die russische Gesellschaft, die in den letzten Jahren Niederlage auf Niederlage hat einstecken müssen, ohne daraus Lehren zu ziehen, einen Verdrängungskrieg. Im Kampf gegen das Böse, seien es Kaukasier, Moslems oder schlicht Andersartige, hat die entfremdete Gesellschaft kurzfristig zueinander gefunden. Trügerische militärische Erfolge, die die imperiale Rolle unterstreichen, Schläge, die Russland austeilt statt einzustecken, sind die Komponenten eines beängstigenden gesamtgesellschaftlichen Konsenses.
Hatte die sowjetische Losung, „Volk und Armee sind eins“, jemals Gültigkeit, so ist das heute der Fall. Russlands Demokratie steht auf dem Spiel. Werden sich die Militärs, „die sich wie Allmächtige frei von jeder Gesetzlichkeit aufführen“, so Auschew , wieder an die Leine der Politik legen lassen? Es wird schwierig sein. Kommen die Greueltaten der entfesselten Miltärs und die eigenen kaschierten hohen Verluste ans Licht, wird die Generalität dann kleinlaut den Schwanz einziehen? Im Interesse Russlands muss der Westen mit einer Zunge sprechen.
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