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Siamesische Zwillinge auf Seite drei

■ In Ian McEwans Roman „Amsterdam“ trauern die Männer um Molly und um sich selbst

Weil Ian McEwan letztes Jahr den Booker-Preis gewonnen hat ... Grausiger Beginn eines Artikels, oder? Vernon, Chefredakteur des Judge jedenfalls würde seine Redaktion ordentlich zusammenstauchen. Der ideale taz-Chef. In Wirklichkeit ginge es ihm aber gar nicht um die Formulierung, sondern darum, die „Grammatiker“ der Zeitung auf seine Seite zu ziehen (der ideale FAZ-Chef). Denn die wird er später noch brauchen, wenn es darum geht, die Story über die siamesischen Zwillinge durchzudrücken (doch eher Bild?), die untrennbar sind, weil der eine ein schwaches Herz hat.

In Ian McEwans neuem Roman „Amsterdam“ geraten zwei Männer aneinander, die eigentlich meinen, sehr gut befreundet zu sein. Bei der Beerdigung der gemeinsamen Geliebten Molly treffen die Männer, eben der Zeitungschef Vernon und der Komponist Clive, auch den britischen Außenminister. Auch er ein ehemaliger Geliebter der Fotografin und Restaurantkritikerin. „Du hast sie nie gefickt“, sagen sich die Herren um die 50 da schon mal am offenen Grab ins Ohr.

Man trauert um Molly und eigentlich vor allem um sich selbst. Sie ist schneller gestorben, als sie sich hätte umbringen können. Und das hat sie mit der Generation der Trauernden gemein. Es sind die englischen 68er. Wehmütig erinnert man sich an Beat-Poeten im East Village oder an die Gruppen-Vögelei 1978 auf einem schottischen Snookertisch. Unter fast zwei Jahrzehnten Thatcher hatte man die Regierung verachtet – und sich etabliert: „Diese Tatkraft, dieser unverschämte Dusel!“

McEwan skizziert das Dilemma einer Generation, die sich selbst verraten hat, aber nach außen hin um so unerbittlicher die alten Ideale hochhält. Längst ist man zum fast skrupellosen Vertreter der eigenen Sache geworden. Clive hat den Auftrag für eine offizielle „Milleniumssinfonie“ ergattert. In seinen schönsten Großkünstlerphantasien vergleicht er sich sogleich mit Beethoven und verwirft mal eben Dylan Thomas.

Seit Ian McEwan Anfang der Siebzigerjahre Creative Writing studierte, wird er vor allem in England als Mann geschätzt oder gehasst, der nicht vor der Schilderung menschlicher Perversionen zurückschreckt – Ian Macabre nennen ihn die Briten angeblich.

In „Amsterdam“ glänzt er mit Sarkasmus, Ironie und Spott. Die Zeitungsszenen möchte man in deutschen Redaktionen am schwarzen Brett aufhängen. Beim Lesen von „Amsterdam“ vermutet man nämlich auch in Deutschland überall diese machtgeile Sucht nach Ruhm und Auflage. Und das vor allem in den Teilen der Presse und in öffentlich-rechtlichen Anstalten, die solcherlei am stärksten bestreiten würden. Nur dass man im angelsächsischen Presseraum schamloser mit der Privatsphäre von Politikern umgeht, was sich zeigt, als der Zeitungsredaktion Fotos des Außenministers als Transe zugespielt werden. Natürlich bringt Vernon die Bilder. Und natürlich macht er das nur, um seiner hehren Journalistenpflicht zu genügen. Genauso klar ist, dass die Anzeigenpreise am Erscheinungstag erhöht werden.

Clive konstatiert daraufhin einen moralischen Verfall Vernons. Nur verstrickt sich auch der Milleniumskomponist in ein moralisches Dilemma. Als er kunstwandelnd über einen Bergrücken wandert und gerade die schönste Idee aus dem heftigen Schluchzen eines Baches bezieht, wird eine Frau bedroht. Helfen oder Komponieren, wo man doch gerade einen so praktischen Felsentisch zum Noten notieren gefunden hat?

McEwan verdichtet diese Geschichte zweier Männer zu einer schnörkellosen, genau ins Ziel treffenden Charakterstudie, die nebenbei äußerst spannend ist. Der Selbstbetrug einer Generation wird ohne Moralinsauerkeit vor unsrem Auge seziert. Befund: Exitus. Todesursache: natürlich.

Andreas Becker ‚/B‘ Ian McEwan: „Amsterdam“. Diogenes Verlag, Zürich 1999. 221 Seiten, 36,90 DM

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