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Die Sehnsucht nach Abgelebtem

Die Rue Oberkampf im Osten von Paris ist eine angesagte Adresse   ■  Von Ariel Hauptmeier

Nachtschwärmer brauchen Abwechslung. In Paris wechseln die Treffs ungefähr alle fünf Jahre

lles begann damit, das Olivier eines Tages durch die Rue Oberkampf ging und das Café Charbon betrat. Hinter der Bar ein altes Ehepaar, vor der Bar kaum Gäste. Der Raum: fünf Meter hoch, die Einrichtung original im Stil der Belle Epoque, vom Lauf der Jahrzehnte allerdings mit einer schmuddeligen Patina überzogen. Olivier, 30 Jahre alt und Besitzer einer Szene-Bar an der Bastille, entschloss sich zum Kauf.

Eine folgenreiche Entscheidung, die der höfliche, unscheinbare Mann da getroffen hatte. Er ließ renovieren, eröffnete das aufgefrischte Charbon im Sommer 1996 – und gab damit den Startschuss zu einer Entwicklung, die bis heute anhält: die Rue Oberkampf, eine verschlafene Einkaufsstraße im Pariser Osten, verwandelte sich in die angesagteste Gegend von Paris. Sie ist unbehelligt geblieben von der Abrisswut der 70er-Jahre. Pittoresk bröckelt der Putz weiterhin von den Häusern.

Die Straße wurde „branché“, wie der Franzose sagt, also an den Stromkreis angeschlossen, wie die wörtliche Übersetzung lautet. Hipp, cool, angesagt im übertragenen Sinne. Plötzlich eröffnete ein Restaurant, eine Bar, ein kleiner Nippes-Laden nach dem anderen. Längst ist das neue Vergnügungsviertel über die Rue Oberkampf in die angrenzenden Nebenstraßen geschwappt, unmöglich findet man abends einen Parkplatz. Jetzt schreiben die Touristen ihre Postkarten auf den Tischen vor dem Café Charbon, das ohne Frage eines der schönsten Cafés in Paris ist. Riesige Spiegel und verblichene Fresken an den Wänden, metallene Gaslampen über der Bar, Sitzecken zwischen Palmen – das Interieur ist so wie zu Anfang des Jahrhunderts. Die Gäste sind dafür in der Regel umso moderner: gut frisierte Berufsjugendliche mit teuren Hemden, Ziegenbärten, Handy und garantiert selbstbewussten Blicken.

Nachtschwärmer brauchen von Zeit zu Zeit eine neue Kulisse für ihre abendlichen Ausflüge. In Paris wechseln die Szene-Viertel ungefähr alle fünf Jahre. Dass man in Paris Anfang des Jahrhunderts auf den Montmartre stieg und in den 60er-Jahren in den Jazz-Kellern von St. Germain herumsumpfte, wissen die meisten. Dass in den 80ern Les Halles angesagt waren, dann die winzigen Bars rund um die Bastille und heute die Rue Oberkampf, ist weniger bekannt. Wobei die echten Pariser Nachtschwärmer längst schon wieder fort von dort sind und sich mittlerweile in den Künstlerkneipen des 20. Arrondissements rund um Belleville herumtreiben.

Die Rue Oberkampf war Anfang des Jahrhunderts Zentrum der Pariser Werkzeugmacher, in den 60er-Jahren schlossen viele Werkstätten, Künstler mieteten die Ateliers. Alain Delon gründete seine Produktionsfirma Daylight Productions in einer Nebenstraße. In den 80er-Jahren versammelte sich die Pariser Subkultur rund um die Rue Oberkampf: Rock-Bands, Tagträumer, Eigenbrötler, Gegenkulturelle. Die Gegend hatte ein schmuddeliges Image. Genau das Richtige also für die die 90er-Jahre mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach dem Echten, Abgelebten.

Das wird nun sorgfältig ausgestellt in den Bars der Rue Oberkampf. In Nummer 99 beispielsweise eröffnete 1832 eine Werkzeugfabrik. 1997 kaufte Alain den Laden und baute um. Er ließ das Ladenschild über dem Eingang hängen („Outillage Moderne“ – Moderne Arbeitsgeräte), überpinselte den rauhen Wandputz mit gelber und roter Farbe und schweißte die rostigen Werkzeuge, die er in der Werkstatt fand, zu Wandplastiken zusammen. Fertig war die „Mecano Bar“. Jetzt sitzen dort abends Frauen in roten Plastikhosen und Männer mit Schwimmbrillen auf der Stirn auf Stühlen vom Sperrmüll an Nähmaschinentischen. Ein Haus weiter, im Kitschladen „Auto Ecole“ hängen Verkehrsschilder an der Wand, denn früher war dort eine Fahrschule. Die Kneipe „Mercerie“ heißt so, weil dort früher eine Kurzwarenhandlung war. Allerorten sieht man den Versuch, die Geschichte eines Ortes sichtbar zu machen. indem man die Spuren seiner Vergangenheit nicht tilgt, sondern im Gegenteil ausstellt.

Nicht so im „Electron libre“. Dort beharrt man auf einer Modernität, die beim Namen beginnt. Ein langer, schlauchförmiger Raum mit einem Ledersofa an seinem Ende. Guillaume, der Besitzer, trägt einen 3-Tage-Bart und ein zerknittertes T-Shirt. Fünf Jahre lang hat er Jura an der Sorbonne studiert, vor einem Jahr entschied er sich für eine Karriere als Barmann. Und nannte seine Bar „Freies Elektron“, um hinzuweisen auf die elektronische Musik, die seine Freunde auflegen, und die Freiheit vom Kommerz, die er predigt. „Wir machen hier das, was uns gefällt, nicht das, womit wir Geld verdienen“, sagt er. Und veranstaltet regelmäßig japanische Videoabende oder lässt experimentierfreudige DJs ihren Krach abspielen.

Tagsüber ist die Rue Oberkampf eine Einkaufsstraße: Der marokkanische Schlachter hat einen Grill auf den Bürgersteig gefahren, in dem sich Hähnchen drehen, vor dem Ramschladen „Lis Basar“ stapeln sich hellblaue gepolsterte Toilettensitze zu 99 Franc und rosa Brotkrümelroller zu acht Franc. Hier, im Osten der Stadt, wohnen einfache Leute, Arbeiter, Immigranten. Obwohl neuerdings viele alte Einwohner fortziehen, weil sie genug haben vom nächtlichen Trubel. Der beginnt spätestens nachts um zwei. Dann schließen auf einen Schlag alle Cafés – Paris hat eine strenge Sperrstunde. Die Gäste stehen auf den Straßen herum und machen Krach. Zuviel für den, der morgens früh hoch muss. Gerade richtig für den, der mitten drin wohnen will – die frei werdenden Wohnungen sind schnell vermietet. Café Charbon, Electron Libre – und noch eine dritte Bar sollte man unbedingt besuchen, wenn man die Rue Oberkampf hinaufschlendert: die Caipirinha-Bar „Favela Chic“. Besitzerin Rosane, 31, ist als Kind aus Brasilien zugewandert und übernahm das leer stehende Restaurant vor zwei Jahren. Sie klebte Bilder von brasilianische Gottheiten an die Decke und steckte mit ihrer Fröhlichkeit die Kellner an. Heute ist das Favela Chic immer voll, samt vorgelagertem Bürgersteig, und an den Wochenenden wird schon mal auf den Tischen getanzt. Strahlend erklärt Rosanne das Geheimnis ihres Erfogs. „Die Hitze der Caipirinha und die Zwanglosigkeit des Ortes machen es einfach, andere kennenzulernen. Hier sind schon viele Paare entstanden. Eine Freundin von mir ist nach einem Abend im Favela Chic schwanger geworden. Wir wollen nicht so sein wie diese bescheuerten Pariser Cafés, wo die Leute an ihren Tischen festkleben und in ihrer spießigen Welt feststecken.“

Adressen: Café Charbon: 109, Rue Oberkampf, Favela Chic: 131, Rue Oberkampf, L'Elektron Libre: 103, Rue St. Maur. Alle Metro Ménilmontant, Paris, 11. Arrondissement

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