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Fehlurteile mit tödlichem Ausgang

■ UN-Bericht räumt Mitschuld der internationalen Gemeinschaft an der Ermordung tausender Muslime aus Srebrenica ein

Genf (taz) – Für die Vertreibung und Ermordung tausender Muslime aus der ostbosnischen UNO-Schutzzone Srebrenica durch serbische Truppen Anfang Juli 1995 waren „Irrtümer und Fehlurteile“ der Vereinten Nationen sowie das „Versagen der gesamten internationalen Gemeinschaft“ mit verantwortlich. Zu dieser Feststellung gelangt ein 155-seitiger Untersuchungsbericht, den UNO-Generalsekretär Kofi Annan am vergangenen Montag der Vollversamlung vorlegte.

Eine wesentliche Mitschuld am größten singulären Völkermordverbrechen in Europa seit 1945, das in den vergangenen vier Jahren insbesondere Politiker und Medien westlicher Staaten immer wieder der Institution UNO als Versagen anlasteten, trifft laut Untersuchungsbericht die Regierungen der USA, Frankreichs, Deutschlands und anderer Nato-Staaten sowie führende Militärs dieser Länder, die leitende Positionen bei den damals in Ex-Jugoslawien stationierten UNO-Truppen (Unprofor) innehatten.

Mit dem UNO-Report werden Berichte, die die taz bereits im Oktober/November 1995 veröffentlicht hatte, weitgehend bestätigt. Die ganze Wahrheit liegt offiziell immer noch nicht auf dem Tisch, weil einige UNO-Dokumente, die die Rolle der USA, Frankreichs und anderer Staaten beleuchten, auf Verlangen der Regierungen dieser Länder weiterhin unter Verschluss gehalten werden. „Mit großem Bedauern und Trauer haben wir unsere eigenen Aktionen und Entscheidungen angesichts des Angriffs auf Srebrenica überpüft“, heißt es im Bericht Annans. „Irrtümer, Fehlurteile und die Unfähigkeit, das Ausmaß des Unheils zu beurteilen“ hätten dafür gesorgt, dass die UNO „nicht ihre Pflicht erfüllt hätte, die Menschen in Srebrenica vor der serbischen Kampagne des Massenmordes zu schützen“.

Der Bericht macht detailliert deutlich, wie es zu diesen Fehlurteilen im New Yorker UNO-Hauptquartier kommen konnte: Zunächst verweigerten die Mitglieder des Sicherheitsrates Anfang 1994 bei ihrem Beschluss, Srebrenica und fünf weitere von serbischenTruppen belagerte bosnische Städte zu UNO-Schutzzonen zu erklären, die von Annan (seinerzeit Chef der UN-Abteilung für Friedensmissionen) und dem damaligen Generalsekretär Butros Butros Ghali für unerlässlich erklärten zusätzlichen 36.000 UNO-Soldaten, um diesen Schutzversprechen auch zu gewährleisten. Der Rat bewilligte lediglich 7.500 Soldaten.

In diesem Zusammenhang verteidigt der Bericht die lediglich 300 leichtbewaffneten niederländischen Blauhelmsoldaten, die im Sommer 1995 in Srebrenica stationiert waren, gegen Kritik, sie hätten die Schutzzone nicht verteidigt. Sie hätten keine Chance gehabt gegen die rund 12.000 serbischen Soldaten, die die Stadt mit schweren Panzern und Artilleriegeschützen angriffen.

Der Bericht stellt fest, dass sich der damalige Oberbefehlshaber der Unprofor, der französische General Bernhard Janvier, trotz mehrfacher Aufforderung durch den Kommandeur der niederländischen Blauhelme in Srebrenica sowie durch andere Untergebene, strikt weigerte, bei der Nato Luftstreitkräfte zur Verteidigung der UNO-Schutzzone anzufordern.

Nach – bis heute nicht dementierten – Informationen der taz erfolgte diese Weigerung Janviers auf Anweisung des franzöischen Präsidenten. Kritisiert werden die USA, weil sie der UNO Aufklärungserkenntnisse ihrer Geheimdienste über die Vorbereitungen der Serben zum Angriff auf Srebrenica sowie über den Abtransport und den Massenmord an bis zu 7.500 muslimischer Zivilisten durch die Serben vorenthielten.

Auflärungserkenntnisse über diese Angriffsvorbereitungen hatten auch der Bundesnachrichtendienst sowie der franzöische Geheimdienst, wie die taz im Herbst 1995 berichtete.

Andreas Zumach

Kommentar Seite 12

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