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■ Mit Hängen, Würgen und ohne Gesichtsverlust für alle Beteiligten endete gestern das Gipfeltreffen der OSCE. Die wichtigsten Dokumente sind unterschrieben, eine Einigung über die Pipeline nach Aserbaidschan ist erreicht. Die Kritik des Westens an Moskau wegen des Krieges in Tschetschenien stoppte das Morden im Kaukasus nicht. Im Gegenteil: Binnen 24 Stunden flogen die Russen 60 Angriffe. Die eigentliche Arbeit fängt erst nach Istanbul an  Aus Istanbul Jürgen GottschlichDen Frieden im Visier

Die langfristige Strategie des Westens ist klar: Russland darf nicht isoliert werden, und der Dialog mit Russland darf nicht abgebrochen werden

Sie wissen, ich bin Realist. Deshalb sage ich ihnen auch, ich glaube nicht, dass dieser Gipfel an der russischen Kriegsführung in Tschetschenien irgend etwas ändern wird.“ Joschka Fischer ist erschöpft und abgespannt, als er am späten Donnerstagabend eine erste Bewertung wagt. „Wir haben mehr erreicht, als wir am Tag vorher hoffen konnten.“

Dieser erschöpften Erleichterung waren tagelange, schwierige Verhandlungen vorangegangen, die am Donnerstag in einem teilweise dramatischen Gipfelverlauf kulminierten. Beide Seiten hatten vor dem OSCE-Gipfel in Istanbul ihre Positionen festgeschnürt, eigentlich schien ein Eklat unvermeidlich. Für Russland stand außer Frage, dass eine kritische Erwähnung, gar eine Verurteilung seines Krieges in Tschetschenien in der Schlusserklärung des Gipfels bedeutet, dass die russische Delegation die Veranstaltung vor dem Ende verlassen würde.

Auf der anderen Seite hatten die USA, aber auch die Staaten der EU sich im Vorfeld festgelegt, dass der russische Staatschef in Istanbul für das brutale Vorgehen gegen die Bevölkerung scharf kritisiert werden muss und eine gemeinsame Erklärung einen Termin der Beendigung des Krieges und eine Ankündigung der Rückkehr an den Verhandlungstisch enthalten müsse. Als am Freitagvormittag die Gipfeldokumente feierlich unterschrieben wurden, war beides nicht der Fall. Die Russen hatten den Gipfel nicht unter Protest verlassen – der Abgang des Moskauers war von vorneherein geplant und soll nach den Worten westlicher Teilnehmer vor allem seiner Erschöpfung geschuldet gewesen sein – und der Westen hat keine Beendigung des Krieges in Aussicht gestellt bekommen.

Die Hoffnungen, die die schwer bedrängte tschetschenische Bevölkerung aufgrund des Treffens der führenden westlichen Politiker mit dem Kriegsherren aus dem Kreml gehegt haben mag, sind nicht erfüllt worden.

Der Krieg geht weiter. Dennoch versichern alle Beteiligten, man habe durchaus etwas erreicht. Russland habe angesichts des Wahlkampfes daheim eingelenkt. Die geballte Kritik der Staats- und Regierungschefs an der russischen Kriegsführung – lediglich Lukaschenko aus Weißrussland war für den russischen Präsidenten – und die intensive Bearbeitung des Kreml-Chefs in diversen Gesprächen unter vier Augen, hätten doch noch die Annäherung gebracht.

Boris, der Russe, war am Donnerstag der mit Abstand begehrteste Gesprächspartner. Nach dem öffentlich geführten Schlagabtausch traf er sich mit US-Präsident Clinton unter „acht Ohren“. „Die Standpunkte blieben unverändert“, verkündete ein Kreml-Sprecher nach dem Gespräch knapp. Eine erste Aufweichung der russischen Haltung bemerkten westliche Teilnehmer später während des Mittagessens, wo der finnische EU-Ratspräsident Ahtisaari pausenlos auf den Russen einredete. Als er danach noch mit Schröder und Chirac palaverte, war er bereits weichgekocht. Erschöpft brach der reisefähige Boris J. das auf 45 Minuten geplante Gespräch nach 15 Minuten ab, beauftragte seinen Außenminister mit der Regelung der Details und verschwand Richtung Flughafen. Am Ende des Verhandlungsmarathons war Russland damit einverstanden, dass das Mandat der OSCE-Mission für Tschetschenien erneuert wurde, dass der amtierende OSCE-Chef, der norwegische Außenminister Vollebaek, das Kriegsgebiet besuchen darf und dass in Tschetschenien unter Beachtung der Normen der OSCE eine politische Lösung des Konflikts angestrebt wird. Irgendwann, versteht sich, wenn Russland der Meinung ist, militärisch hätten sie nun erreicht was sie konnten.

Das Mandat der OSCE für Tschetschenien stammt noch aus dem vorigen Krieg im Nordkaukasus. Damals, 1995–1996, hatte Russland sich einverstanden erklärt, dass eine fünfköpfige Delegation von OSCE-Diplomaten in Grosny eine Basis unterhält und die Waffenstillstandsgespräche der russischen mit der tschetschenischen Seite moderiert. Tatsächlich hat die kleine OSCE-Gruppe damals mit großem Engagement wichtige Vermittlerdienste geleistet und die beiden Seiten immer wieder an den Verhandlungstisch gebracht.

Erst vor einem Jahr verließ die OSCE Grosny, nach Angaben russischer Diplomaten, weil der dortige Präsident Machadow ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten konnte. Wie die OSCE nun ihr erneuertes Mandat für Tschetschenien praktisch wahrnehmen soll, war in Istanbul noch völlig offen. Der deutsche Staatschef Schröder mochte nicht auf diese Frage antworten: Er wollte dem norwegischen Außenminister die Mission nicht erschweren. Im besten Fall wird die nun in Moskau stationierte „Assistent Group“ eine Basis in Inguschetien errichten können. Sie ist dann näher am eigentlichen Geschehen. Mit der OSCE-Gruppe und anderen humanitären Organisationen sollen in Inguschetien wenigstens die Flüchtlinge aus Tschetschenien besser als bislang versorgt werden.

Der Erfolg liegt für die westliche Politik nicht in den mageren praktischen Ergebnissen, sondern im Grundliegenden. „Wir müssen an unserer langfristigen Strategie festhalten“, hatte der außenpolitische Berater Schöders, Wolfgang Steiner, immer wieder betont. Die langfristige Strategie aber ist klar: Russland darf nicht isoliert werden, der Dialog mit Russland darf nicht abgebrochen werden. Russland ist eben nicht Serbien. Als der OSCE-Ratschef Vollbaek auf dem abschließenden Pressetermin gefragt wurde, was denn geschehe, wenn die Russen sich nicht an den Kompromiss halten, meinte er nur: „Das ist einfach undenkbar.“

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