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■ Früher kritisierte der Westen Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. Heute lässt man Russland einen brutalen Krieg führenAbschied von den Menschenrechten

Europa hat keine Russland-Politik – und betreibt so eine destruktive Politik

Im Oktober 1993 ließ Jelzin den Obersten Sowjet gewaltsam auflösen: 140 Menschen, unter ihnen viele zufällige Passanten, mussten für den Sieg der „Reformkräfte“ mit ihrem Leben bezahlen. Demokratie hin , Demokratie her: Der Sieg über die Kommunisten wurde mit einem weiteren IWF-Kredit belohnt. Der Weg für die so genannten monetaristischen Reformen nach amerikanischem Rezept war geebnet, es war der Weg in den Ruin. Binnen eines Jahres sank die Popularität Jelzins auf sieben Prozent, und just zu diesem Zeitpunkt beschloss der eigenwillige Diktator Tschetscheniens, General Dudajew, seine Gewinne aus dem Erdölgeschäft nicht mehr mit der Kreml-Mafia zu teilen. Damit war das Fass für die Russen übergelaufen. Ein kleiner siegreicher Krieg sollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Dudajew zeigen, wer Herr im Hause ist, und das Ansehen Jelzins bei der Bevölkerung verbessern. Im Dezember 1994 fielen die ersten Bomben auf Grosny. Die russische Gesellschaft war entsetzt.

Zum Entsetzen der demokratischen Kräfte in Russland blieb jedoch die Reaktion im Westen so gut wie aus: Deren Regierungschefs reisten diszipliniert zum 50. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg nach Moskau. Die fälligen IWF-Kredite wurden rechtzeitig ausgezahlt; für den Wahlkampf bekam Boris Jelzin eine Zulage aus Deutschland. Gleichzeitig wurde Russland in den Europarat aufgenommen. In den USA setzte man lieber auf den korrupten Jelzin als auf die schwachen Demokraten: Schließlich ging es erneut um die Gefahr einer Revanche der Kommunisten. Mit den Krediten finanzierte man – direkt oder indirekt – auch den Tschetschenien-Krieg.

Damals war ich über das Schweigen der Öffentlichkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber diesem Krieg im Westen entsetzt. Heute wundert es mich nicht mehr. Mehr noch: Die damalige Logik der außenpolitischen Absenz insbesondere der deutschen Öffentlichkeit wird nun lediglich fortgesetzt. Ich finde es bizarr, dass der „Strukturwandel“ des Begriffs „Menschenrechte“ (in dessen Namen noch der Kosovo-Krieg geführt würde) nicht zur Kenntnis genommen wird. Als das Sowjetregime in den 70er- und 80er-Jahren einige Dutzend Regimekritiker einsperren ließ, die Emigration der Juden erschwerte und gegen die Deklaration der Menschenrechte verstieß, nahm der Proteststurm im Westen kein Ende. Die Menschenrechte wurden als wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen die Supermacht Sowjetunion eingesetzt: Das genuine und auch legitime Interesse des Westens bestand darin, die Sowjetunion aus ihren Einflusssphären zu vertreiben, sie totzurüsten und von innen zu schwächen. Ohne diese geostrategische Aufgabe hätte die Rhetorik der Menschenrechte nicht annähernd eine so mobilisierende Rolle spielen können. Schließlich gab es genug Diktaturen, unter anderem auch von den USA aufgezogen und unterstützt, in denen viel gravierendere Verbrechen gegen vermeintliche oder wirkliche Regimegegner begangen wurden. Die Verletzungen der Menschenrechte teilten sich in „für“ und „gegen“ Freiheit und Demokratie. Die einen wurden zumindest in Kauf genommen, die anderen als Verbrechen des kommunistischen Regimes gebrandmarkt. Diese Doppelmoral diente als eine rhetorische Ausstaffierung der Interessenpolitik.

Nach dem Kollaps der Sowjetunion meldete sich die bunte Welt, die vom Eisenen Vorhang ausgeblendet war, ins kollektive Bewusstsein zurück, und diese Welt erwies sich als voll von Menschenrechtsverletzungen und Blutvergießen. Die USA begannen, das geopolitische Vakuum mit ihren „Sicherheitsinteressen“ zu füllen, die globale Instabilität und die regionalen Spannungen nahmen zu. Europa war mit dem Euro beschäftigt und konnte sich auf keine gemeinsame Außenpolitik verständigen. Die Krise in Jugoslawien verschlief man schlichtweg. Es stellte sich heraus, dass ohne ein Eigeninteresse keine Durchsetzung der Menschenrechte möglich ist. Selbst im Kosovo waren die Menschenrechte eher ein vorgeschobenes Argument. Der europäische Konsens bestand nicht darin, dass man den Menschenrechtsverletzungen durch die Bombardierungen Serbiens ein Ende setzen könnte, sondern in der Angst vor dem Zusammenbruch der Allianz. Darauf war Deutschland genau wie Italien nicht vorbereitet. Sicher scheint allerdings, dass der Nato-Einsatz so viel Schaden, auch in Form von Verletzungen der Menschenrechte, angerichtet hat, dass die Frage aufkommt, ob eine genuine Menschenrechtspolitik überhaupt möglich ist.

Diese Frage hat Folgen für Tschetschenien. Die Clinton-Administration zeigte sich nicht imstande, Prioritäten in der Russland-Politik zu setzen, und versuchte, miteinander unvereinbare Interessen ins Spiel zu bringen: Russland gleichzeitig zu schwächen und zu unterstützen, die Nato-Osterweiterung gegen Kredite, Kredite gegen Kapitalflucht auszuspielen. Hinzu kamen der Kosovo-Einsatz, die Clinton-Doktrin, die Erklärung des Kaukasus zur Einflusssphäre, die Weigerung, den Atomtestvertrag zu unterschreiben, oder die Aufrüstungspläne. Europa hatte überhaupt keine Russland-Politik, und keine Politik ist eine destruktive Politik. Im Ergebnis entfaltete sich in Russland ein „Weimar-Syndrom“, das sich nun in Tschetschenien entlädt. Es fragt sich allerdings, ob der Westen unter diesen Umständen überhaupt Einfluss auf die Ereignisse nehmen kann. Nachdem man gegen den ersten Tschetschenien-Krieg nicht protestiert und der Kosovo-Einsatz die Gefahren des „humanitären“ Kriegs gezeigt hatte, hätte Druck auf Russland, das schon einmal eine moralische Carte blanche aus dem Westen bekommen hat, wenig Sinn.

Die Amerikaner setzten lieber auf den korrupten Jelzin als auf Demokraten

Zweifelsohne wäre es vernünftig, auf eine politische Lösung zu drängen. Aber wieso ließ sich im Kosovo keine finden, als die Russen darauf bestanden? Man könnte an die Moral appellieren, aber die westliche Moral ist von den Russen schon während des ersten Tschetschenien-Kriegs in Frage gestellt und im Kosovo erledigt worden. Gibt man keine Kredite mehr, die Russland für Schuldentilgung aufwendet, wird diese mutige Tat allein die deutschen Steuerzahler mehr als Sparpaket und der Kosovo-Einsatz zusammengenommen kosten. Wenn man die Karten offen legt, muss man das zugeben, was man im Kosovo nicht einsehen möchte: Die Möglichkeiten eines direkten Einflusses sind sehr begrenzt. Besonders weil man versäumt hat, eine langfristige Politik zu formulieren, die die Transformation in den betroffenen Ländern konstruktiv beeinflussen könnte. So wird der Westen zusehen müssen, wie Russland der Nato in Tschetschenien zeigt, wie es sich selbst zugrunde richtet.

Sonja Margolina

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