■ Aus der von Russland kontrollierten Welt führt von Tschetschenien aus nur ein Weg: der über hochalpines Gelände nach Georgien. Russische Grenzer lehnte Präsident Schewardnadse ab. Da wurde der angeblich als Waffenschleuse benutzte Grenzort Schatili beschossen: Georgien – das letzte Schlupfloch
Haarscharf schossen sie an der Schule vorbei, dann drehten sie drei Runden über dem Dorf und feuerten auf die Felswände“, erzählt ein Mädchen in dem georgischen Dorf Schatili. Drei „Krokodile“, Kampfhubschrauber der russischen Armee, hatten vergangene Woche zum ersten Mal das georgische Bergdorf heimgesucht.
Schatili ist kein gewöhnlicher Ort. Seit dem neuen Waffengang zwischen Tschetschenien und Russland dient der gottverlassene Flecken in 1.700 Meter Höhe den Tschetschenen als einziges Schlupfloch hinaus in die nicht von Russen kontrollierte Welt.
Ein ziemliches Ärgernis aus Sicht der russischen Militärs, die seit Wochen versuchen, die politische Führung in Tiflis dazu zu überreden, die Grenze von Moskaus Soldaten überwachen zu lassen. Tatsächlich geht es den Russen aber um mehr. Würde Georgien zustimmen, könnte die Armee von Süden aus eine zweite Front gegen Grosny eröffnen. Ein strategischer Vorteil, der den Krieg vorentscheiden würde.
Georgiens Präsident Eduard Schewardnadse lehnte das Ansinnen der Russen ab. Der ehemalige sowjetische Außenminister ist sehr darauf bedacht, sein Land, das nach Jahren innenpolitischen Tohuwabohus ein wenig zur Ruhe gekommen ist, aus dem Kriegsgeschehen herauszuhalten. „Die russische Anfrage“, sagt der georgische Geheimdienstchef Wachtang Kutuladze, „war auch nicht an einen souveränen Staat gerichtet. Sie klang wie eine Order. Russland will es nicht wahrhaben, dass wir unabhängig sind“.
Der Abschnitt an der georgisch tschetschenischen Grenze zieht sich über 81 Kilometer hin und steigt von 1.500 bis über 4.000 Meter hinauf. Ein unwirtliches, hochalpines Gelände, das nur schwer zu kontrollieren ist. Nur etwa 4.000 Flüchtlinge schleppten sich seit Kriegsbeginn die Hänge hinauf. Im Vergleich zu den 200.000, die in der Republik Inguschetien Zuflucht suchten, eine geringe Zahl.
Von den beiden Übergängen nach Georgien ist im Winter allein Schatili passierbar. Russland behauptet nun, gerade hier verliefe die Hauptschlagader des tschetschenischen Waffennachschubs. General Valeri Tscheichidse, Chef der georgischen Grenztruppen, räumt freimütig ein, er sei mit seinen 5.500 Soldaten nicht imstande, die Grenzen lückenlos zu kontrollieren. Waffenschmuggel? „Ein paar Gewehre gelangen vielleicht hinüber, aber kein schweres Gerät.“ Wohlweislich wurde die Straße nach Schatili auf der georgischen Seite nicht zu Ende gebaut. Vier Kilometer vor dem Ziel mündet sie in einen Trampelpfad. Schwertransporte sind auf diesem Wege unmöglich.
Der Hubschrauberangriff wird in Tiflis so verstanden, wie er gemeint war: als Drohung. Die russische Erklärung, den Piloten sei ein Navigationsfehler unterlaufen, glaubt niemand. Tscheichidse bringt es auf den Punkt: „Wenn etwas passiert, sobald der Präsident außer Landes ist, mag es das erste Mal als Zufall gelten können, beim dritten Mal steckt System dahinter.“ Präsident Eduard Schewardnadse war zu der Zeit auf dem OSZE-Gipfel.
Die zunehmende Verdrängung aus der Region, die Russland als angestammtes Einflussgebiet betrachtet, werde noch Turbulenzen verursachen, fürchtet Kutuladze. „Duma-Abgeordnete und Militärs bereiten schon den ideologischen Boden für einen Übergriff“, warnt er. Ihre Begründung sei einfach: Wenn die USA in Afghanistan dem saudi-arabischen Terroristen Bin Laden nachsetzen, warum sollte dann Russland in Georgien nicht tschetschenische Terroristen verfolgen?
Es fällt nicht schwer, Georgiern das Fürchten zu lehren. Es reicht, die zahlreichen ethnischen Minderheiten gegen Tiflis aufzustacheln. „In Südossetien spielen die Russen schon wieder mit dem Feuer“, meint ein Mitarbeiter des Präsidialstabes. In der Region, die Anfang der 90er-Jahre mit Russland vereinigt werden wollte, hatten sich die erhitzten Gemüter mit den Jahren wieder abgekühlt. Im Gespräch mit der taz spielte Schewardnadse die Gefahren herunter. Ein Hinweis, wie delikat die Lage in Wirklichkeit ist?
In der moslemischen Republik Adscharien an der Grenze zur Türkei unterstützten die dort stationierten russischen Militärs Schewardnadses mächtigsten Gegenspieler Aslan Abaschidse, der sein Reich inzwischen unabhängig von Tiflis führt. Auch im Siedlungsgebiet der armenischen Minderheit geben die Militärs des russischen Stützpunktes den Ton an. Und bereits 1993 gelang es der Republik Abchasien mit Hilfe aus Moskau, sich von Georgien abzuspalten. 200.000 Georgier wurden dabei vertrieben.
Für Tscheichidse steht fest: „Man will uns in den Krieg hineinziehen und Georgien an die Leine legen.“ Schatili sei sicher nicht die letzte Provokation gewesen. Der General kennt die russischen Militärs nicht nur vom Hörensagen. Als Leutnant kämpfte er an ihrer Seite in Afghanistan. „Schewardnadse ist für sie ein rotes Tuch, der den Zerfall der Sowjetunion und den demütigenden Rückzug aus Osteuropa zu verantworten hat.“
Zwei Anschlägen ist der Präsident nur knapp entkommen. Was hinter den Attentaten steckt, ist offenkundig: Sobald Schewardnadse beseitigt ist, fällt Georgien Moskau wie eine überreife Frucht in den Schoß. „Wunschdenken“ – kommentiert der Geheimdienstchef lakonisch.
Doch ist das Kalkül nicht aus der Luft gegriffen. Die Machttechnologie von Schewardnadse hat verhindert, dass sich in seinem Umfeld ein Nachfolger hätte profilieren können. Zur Zeit steht und fällt mit Schewardnadse die Stabilität.
An konstruktiven Beziehungen, gemeinsamen Wirtschaftsunternehmen, klagt der Parlaments-Vizepräsident und bekannte Filmregisseur Eldar Schengelaja, sei Russland nichts gelegen. „Sogar das historisch heikle Verhältnis zur Türkei läuft heute besser.“ Schengelaja stimmt die Entwicklung traurig. Ihn verbindet vieles mit Moskau, wo er die Jahre seiner Ausbildung verbrachte. Tritt seine Generation ab, hat Russland am Südhang des Hohen Kaukasus keinen Fürsprecher mehr.
Klaus-Helge Donath, Moskau
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