piwik no script img

Die rettende Insel im Kaukasus

Seit 200 Jahren leben Tschetschenen in einer Enklave im Norden Georgiens. Sie gelten als Schmuggler und Banditen – und nehmen hunderte Flüchtlinge auf  ■   Aus Duisi Klaus-Helge Donath

„Warum hilft der Westen den Albanern im Kosovo, aber tut nichts für uns? Sind wir schlechter als andere?“

Ansur hat eine Menge Humor und einen schier unerschöpflichen Vorrat an Gleichmut. Der Gemeindevorsteher von Duisi hätte in den letzten Wochen Grund genug gehabt, den Kopf zu verlieren. Das Dorf droht aus allen Nähten zu platzen. Innerhalb von wenigen Tagen wurde er Herr über 2.500 neue Mitbürger. Ärmliche und hungrige Gäste, die mit nicht viel mehr kamen, als sie auf dem Leibe tragen. Seit der Krieg in Tschetschenien tobt, suchen Flüchtlinge auch beim südlichen Nachbarn Georgien Unterschlupf.

Duisi liegt am Südhang des Hohen Kaukasus im Norden des Landes. Es ist kein gewöhnliches georgisches Dorf. Vor zweihundert Jahren flohen die ersten tschetschenischen Siedler vor den russischen Kolonisatoren über den mächtigen Höhenkamm. Seither wuchs die Gemeinde mit jedem russischen Vorstoß im Norden.

„So viele wie in diesem Krieg waren es noch nie“, meint Ansur. Die Dorfstraße wimmelt von Menschen. Die meisten von ihnen sind Männer, die in kleinen Gruppen zusammenstehen und die Zeit totschlagen. In Duisi gibt es nichts zu tun, es sei denn Holz für den Brennofen zu sammeln.

Fast jede Familie hat Flüchtlinge aufgenommen. „Wir teilen, was wir haben“, sagt Ansur. Inzwischen müssen Neuankömmlinge aber im Kindergarten, Krankenhaus und Gemeindesaal absteigen. Die öffentlichen Einrichtungen sind ohnehin geschlossen, seit aus der Hauptstadt Tblissi keine Gelder mehr eintreffen. Duisi führt ein Eigenleben. Aber das stört die Bewohner nicht. Recht integriert waren sie nie. Und die Nichtbeachtung hat auch Vorteile.

In dem einstöckigen Krankenhaus aus Sowjetzeiten, gleich hinter dem Ortseingang, wird nur noch ein Raum als Krankenzimmer genutzt. Auch Ansur, von Beruf eigentlich Zahnarzt, hat den Behandlungsstuhl und vorsintflutliche Bohrinstrumente in sein Privathaus verlegt. „Patienten gibt es nach wie vor genug“, erklärt er. So viele, dass er nicht einmal Zeit findet, das eigene Gebiss auf Vordermann zu bringen.

Durch die Fensterritzen des Vorsteherbüros kriecht eiskalte Bergluft. Ansur erledigt seine Arbeit daher lieber ambulant. Den wichtigen Stempel für die Registrierung der Verstoßenen trägt er immer bei sich.

„Ist das nicht eine Pracht?“, schmunzelt er, als er die Tür zu seinem spartanisch eingericheten Büro öffnet. Einziger Wandschmuck ist ein Foto, das den georgischen Staatschef Eduard Schewardnadse und Tschetscheniens Präsidenten Aslan Maskhadow zu Besuch bei der tschetschenischen Minderheit zeigt. Die Georgier nennen sie Kisty. Es war eine Goodwill-Tour im Jahr 1997. Die Beziehungen der Nachbarn hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwere Zeiten durchlebt. Noch haben die Georgier nicht vergessen, dass der Tschetschene Schamil Bassajew aufseiten des abtrünnigen Abchasiens im Sezessionskrieg 1993 gegen die Truppen aus Tblissi kämpfte.Tblissis Politik gegenüber Grosny ist daher äußerst vorsichtig. Der Kaukasuskrieg und Georgiens geopolitische Interessen machen beide vorübergehend zu Verbündeten. „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“, scheint in Tblissi die Devise im Umgang mit Grosny zu sein. Das Misstrauen erklärt wohl, warum Georgien alle Flüchtlinge in die Region um Duisi abschiebt.

Geheimdienstchef Wachtang Kutuladse hatte in Tblissi vor einem Besuch in Duisi gewarnt. „Wir haben den Kontrollverlust hingenommen, um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden.“ Nachdem die rebellischen Nordkaukasier im ersten Krieg 1994 die Russen in die Knie gezwungen haben, hätten sie ein „ tschetschenisches Siegersyndrom“. Die Pankisty-Schlucht, das Siedlungsgebiet der Tschetschenen, sei zum Umschlagplatz für Waffen und Rauschgift geworden, behauptet der Sicherheitschef. Von dem Rauschgifterlös wurden Waffen gekauft. Von wem? „Von den russischen Militärbasen in Georgien, wo alles erhältlich ist.“

In Duisi ist der Profit offensichtlich nicht hängen geblieben. Die Häuser und kleinen Gehöfte haben schon lange keinen frischen Anstrich mehr bekommmen. Strom und Gas werden aus der Provinzhauptstadt Achmeta nicht mehr geliefert, weil die Gemeinde ihre Rechnungen nicht begleichen konnte. Nirgends tuckern dieselbetriebene Stromaggregate wie in den anderen Dörfern der Umgebung. „Sie leben wie im Mittelalter“, klagt Aisja, eine Lehrerin aus Grosny, die mit ihrer behinderten Tochter noch vor den heftigen Schneefällen über die Berge geflohen ist. Drei Tage waren sie unterwegs. Sie ist verbittert und enttäuscht. „Wir sind ihnen zu unendlichem Dank verpflichtet“, besinnt sie sich noch, bevor sie zwischen den Häusern verschwindet. Wo wären die Flüchtlinge gelandet ohne diese bescheidene Hilfe?

Sollte das Leben drüben besser gewesen sein trotz aller Einschränkungen seit Ausbruch des ersten Krieges vor fünf Jahren? Das Gefälle im Lebensstandard zwischen dem Norden und Süden springt ins Auge. Dabei konnten sich die georgischen Tschetschenen aus allen Konflikten mit dem russischen Herrenvolk heraushalten. Ihre versteckte geografische Lage verschonte sie 1944 sogar von Stalins Zwangsumsiedlungen, denen fast alle Völker im Nordkaukasus zum Opfer fielen. Ganz reibungslos verlief das Leben für die Kisty aber nicht. Der sowjetische Anpassungsdruck erreichte auch sie. Ansurs Name bezeugt das: Der Name des Vaters Motschuko wurde russifiziert zu Motschukowitsch, der Familienname Kawdarra erhielt die georgische Endung „schwili“, rein Tschetschenisch blieb nur der Vorname. Ansur spricht fließend Tschetschenisch und Georgisch, Russisch nur noch gebrochen. Er brauchte es an der Universität und in der Armee vor 25 Jahren.

In den Wintermonaten, zwischen Oktober und Mai, sind Schmuggler in der Pankisty-Schlucht zum Müßiggang verurteilt. Über dem Pass, der Georgien von Tschetschenien trennt, wachen Viereinhalbtausender, der Trampelpfad steigt auf über 3.000 Meter an und ist von mannshohem Schnee bedeckt. Im Sommer braucht ein geübter Wanderer mit Maultier etwa zwei Tage, um die andere Seite zu erreichen. Im Winter sei es selbst für Profis ein riskantes Unternehmen, meinen Einheimische. Die letzten Füchtlinge hätten es Anfang Oktober mit Mühe noch geschafft.

Ist Duisi ein Räuber- und Schmugglernest, wie es in Tblissi heißt? Ansur weist die Vorwürfe weit von sich. „Schaschlik?“, fragt er unvermittelt. Als Beweis seiner Aufrichtigkeit bietet er an, ein Lamm zu opfern und lädt zu hausgemachtem Rotwein ein. „Wären so viele Leute nach Tschetschenien gegangen, um dort zu arbeiten, wenn bei uns illegale Geschäfte blühen würden?“

Einer dieser Arbeitsmigranten war der 21-jährige Omar Bagakaschwili. Vor fünf Jahren, nach dem Schulabschluss mit 16, ging Omar nach Grosny. Als sich im September abzeichnete, dass Moskau einen Revanchefeldzug beginnen würde, forderte Vater Bagakaschwili seinen Sohn auf zurückzukommen. Omar lehnte ab. Also machte sich das Familienoberhaupt auf den Weg nach Grosny. Da konnte sich der Sohn nicht mehr widersetzen, der tschetschenische Kodex verbietet despektierliches Verhalten gegenüber dem Alter. Stockend erzählt der Vater die Geschichte. Gram, Trauer und Vorwürfe haben in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen. Im Hof trocknen noch die Felle der geschlachteten Lämmer der Trauerfeier. Als Vater Bagakaschwili seinen Sohn überredet hatte mitzukommen, wurde der Flüchtlingstreck auf der Bergstraße von russischen Kampfhubschraubern angegriffen. Zwei Kilometer vor dem rettenden Grenzposten wurde Omar tödlich verletzt. Ein Granatsplitter bohrte sich in seine Brust. Dennoch streitet die russische Armee ab, gezielt Angriffe gegen Flüchtlinge zu fliegen.

In Tblissi heißt es, die tschetschenische Enklave sei zum Umschlagplatz für Drogen und Waffen geworden

Auch Tomasis Familie, die aus Duisi stammt, die letzten Jahre aber in Grosny verbracht hatte, versuchte Anfang November die Flucht in Richtung Duisi. Langsam versammeln sich die schwarz gekleideten Frauen im Hof des elterlichen Hauses. Nur die Schwester bringt es über sich, den Vorfall zu schildern. Direkt am Grenzübergang seien der Bruder und der Ehemann aus einem der kreisenden russischen „Krokodile“ erschossen worden. Omar und Tomasi waren beide Bürger der Republik Georgien.

Viele frische Gräber sind auf dem Friedhof in den letzten Wochen aufgeschichtet worden. Auf Tomasis Grab steht bisher nur ein Holzpflock mit einer weißen Binde, wie es der islamische Brauch vorschreibt. Auf Omars Grabstele ist indes auf Georgisch vermerkt, was damals passiert ist. Dass er dem Krieg entkommen wollte und es russische Hubschrauber waren, die die Flüchtenden kurz vor dem Ziel aufs Korn namen. „Was haben wir eigentlich mit dem Krieg zu tun?“, fragt der alte Bagakaschwili. Er kniet über dem Grab und sammelt Sandkrumen auf.

Vor dem Verwaltungsgebäude haben sich einige Männer versammelt. Sie machen nicht den Eindruck, vom angeblichen Siegersyndrom befallen zu sein, wie Geheimdienstchef Kutuladse es formuliert hatte. Aus ihren Gesten und Worten spricht Verzweiflung und Resignation. Die meisten wollen nicht mehr nach Tschetschenien zurück. „Man wird uns nie in Ruhe leben lassen“, meint Mahmut, „die Welt soll das wissen.“ Sie haben eine Petition vorbereitet mit der Bitte, sie westlichen Botschaften zu übergeben. „Warum hilft der Westen den Albanern im Kosovo, aber tut nichts für uns?“, fragt einer. „Sind wir schlechter als andere?“

In der Unterkunft nebenan bollert ein Holzofen. Drei Frauen und zwei Kinder aus Tschetschenien leben hier. Aus Zwiebeln, Kohl und Graupen, die ihnen die Einheimischen geschenkt haben, bereiten sie eine Mahlzeit. Esila ist in Hausschuhen Hals über Kopf vor den Russen geflohen. „Wir sind 40 Kilometer durch den Schnee gelaufen“, berichtet sie. Auf der anderen Seite der Grenze hätten sie dem georgischen Taxifahrer 100 Dollar bezahlen müssen, um überhaupt weiterzukommen. In dem Raum ist es heiß wie in einer Sauna. So als wollten die Flüchtlinge Wärme speichern vor dem nächsten Exodus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen