: Jede Firma hatte mit Zwangsarbeitern zu tun“
■ Parallel zu den Verhandlungen um die Entschädigung von Zwangsarbeitern veröffentlicht das Heimatmuseum Lichtenberg erste Forschungsergebnisse über die Betriebe im Bezirk
Eugenie, Tochter der Zwangsarbeiterin Alexandra Makurenkowa, lebte nur vom 3. September bis zum 7. Oktober 1942. „Wohnhaft“ war sie, wie die offiziellen Akten festgehalten haben, im Lager der Knorr-Bremse Aktiengesellschaft in Berlin-Lichtenberg, Roederstraße 85. Dort ist sie auch gestorben. Todesursache: „Schwere Ernährungsstörung“.
Das Heimatmuseum Lichtenberg hat ihr Schicksal ausgegraben und gestern der Öffentlichkeit vorgestellt. Als Zwischenergebnis einer geplanten Ausstellung über die Fremd- und Zwangsarbeiter im Bezirk hat die Leiterin des Museums, Christine Steer, schon jetzt ermittelt: An etwa 90 Orten wurden in der Nazizeit Männer, Frauen und Kinder aus den eroberten Gebieten ausgebeutet – zum Wohle von Unternehmen, städtischen Einrichtungen, landwirtschaftlichen Betrieben, Konzernen und der Reichsbahn. Mindestens 38 Betriebe ließen insgesamt Tausende für sich schuften. Schwankend zwischen zwei Zielen: Vernichtung durch Arbeit oder Lebenserhalt zur weiteren Ausbeutung.
Klar ist, dass in Lichtenberg „jede Firma mit Fremd- und Zwangsarbeitern zu tun hatte“, wie die Historikerin betonte, wegen des Arbeitskräftemangels durch den Abzug deutscher Arbeiter an die Front „ging es gar nicht anders“. Offensichtlich ist auch, wie katastrophal die Lebensumstände in den Zwangsarbeiter-Baracken waren, in denen bis zu 1.600 Menschen lebten.
Mikito Baranowsky, Wladimir Schuschenko, Mychaijlo Hlywiak und Dutzende, wenn nicht Hunderte anderer Männer, Frauen und Kinder sind an Unterernährung und Erschöpfung gestorben: Hochgradiger Kräfteverfall“, „Herzmuskelschwäche“, „ungeklärter Kräfteverfall“ weisen die Listen als Todesursachen aus.
Profitiert haben von der Ausbeutung und Schinderei Unternehmen, die zum Teil noch heute existieren. Knorr-Bremse hat nur noch ein Fertigungswerk in Marzahn (der frühere Standort liegt heute an der Paul-Junius-Str. 56–64), die Firmenzentrale ist in München. Dort konnte gestern niemand darüber Auskunft geben, ob das Unternehmen überlebende Zwangsarbeiter entschädigt hat. Auf der veröffentlichten Liste der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter ist Knorr-Bremse jedenfalls nicht zu finden.
Philipp Gessler
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