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Der schamlose Kampf um Geld und Pfründen

Im russischen Wahlkampf überziehen sich die Eliten gegenseitig mit Schmutzkampagnen. Parteiprogramme spielen keine Rolle. Vielmehr stecken die unterschiedlichen Clans ihre Reviere ab  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der Klempner findet in der Toilette keinen Defekt und wendet sich an den Kollegen: ,Petrowitsch, der Gestank kommt von nebenan. Dort läuft der Fernseher.‘“ ... Eine Karikatur der Latrinenpolitik im Wahlkampf. Am 19. Dezember wählt Russland ein neues Parlament. Das steht fest. Die Spekulationen, Boris Jelzins Entourage könnte aus Angst vor einem Machtverlust den Urnengang verschieben, sind widerlegt. Damit sind die erfreulichen Nachrichten aber schon erzählt.

Im Kaukasus waten russische Soldaten in Blut und Schlamm, derweil in Moskau sich die politische Elite bis aufs Messer bekämpft. Schamgrenzen existieren nicht. In Russland herrscht Bürgerkrieg. Nicht die geschundenen Massen hätten etwa zu den Waffen gegriffen. Sie sind und bleiben Statisten des Geschehens. Vielmehr führt die regierende Elite einen gnadenlosen Krieg gegeneinander – unter Einsatz der effektivsten Waffen, der Medien.

Wer das einzige landesweit zu empfangende Fernsehprogramm ORT schaut, erhält ein klares Bild, welche Halunken in der Hauptstadt das Böse verkörpern. Es sind Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow und der ehemalige Premierminister Jewgeni Primakow. Beide stehen dem Wahlblock Vaterland, ganz Russland (OVR) vor, der gute Aussichten hat, mit den Kommunisten die stärkste Fraktion zu stellen. Seit Sommer versucht die Kreml-Administration, dem Zweckbündnis der Provinzgouverneure und Republikspräsidenten den Wahlerfolg zu vereiteln. Der Grund: Die regionale Nomenklatura hat sich damals demonstrativ von Jelzin abgewandt. Der Jelzin-Clan, engste Mitarbeiter und Familienangehörige, fürchten seither Rache. Der Duma-Urnengang gilt als Testlauf der Präsidentschaftswahlen im Sommer. Wer sich bei den Parlamentswahlen sicher platziert, darf auch im Kampf um die Thronfolge auf Erfolg setzen. Der Wähler gibt seine Stimme keiner Partei, sondern einer Person. Russland kennt keine Parteien, die in sozialen Milieus verankert sind, mit Ausnahme der KP. Sie wird auch im neuen Parlament die größte Fraktion stellen, ohne eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Ihre Funktionäre gehören zum Establishment, ihr Protest beschränkt sich auf symbolische Politik.

Die Fixierung auf eine Führerfigur mit Erlöserqualitäten ist ein entscheidendes Moment der politischen Kultur. Dem mediokren Sowjetbürokraten und Stillstandsverwalter Primakow gelang es während seiner Amtszeit als Ministerpräsident, die nostalgischen Gefühle der politikmüden Bürger anzusprechen. Unangefochten führte er die Favoritenliste der Präsidentschaftskandidaten an.

An kompromittierendem Material fehlt es nicht

Im Schulterschluss mit dem pragmatischen Bürgermeister Luschkow schien dem Duo bei den Duma-Wahlen keiner mehr das Wasser reichen zu können. Ideologische Differenzen zwischen Kreml und OVR bestehen nicht. Politische Entwürfe spielen ohnehin im Wahlkampf keine Rolle. Lediglich unterschiedliche Clans stecken ihre Reviere ab.

So hatte Luschkow im Falle eines Sieges angekündigt, gewisse Eigentumsentscheidungen noch einmal zu überprüfen. Derweil Primakow als Premier zwielichtigen Finanzgeschäften des Oligarchen Boris Beresowski nachspüren liess. Der Finanzmogul ist Hauptaktionär des Senders ORT, der die Hetzkampagne nun lanciert. Sekundiert vom staatlichen Kanal RTR. Sie unterstellten Primakow, er habe 1991 als Chef des Auslandsgeheimdienstes vereitelt, das Milliardenvermögen der Kommunistischen Partei dingfest zu machen. Überdies sei er krank und müsse sich für 100.000 Mark in der Schweiz operieren lassen.

Nicht schonender verfährt man mit dem Moskauer Stadtpatron. Er habe den Mord an einem amerikanischen Geschäftsmann in Auftrag gegeben und sei Hintermann der Scientology-Organisation in Russland. Jeden Sonntag sorgt der ORT-Moderator Sergej Dorenko für eine neue Folge der tragikomischen russischen Seifenoper. An kompromittierendem Material – „kompromat“ – fehlt es in der russischen Politik nicht.

Macht dient vornehmlich dazu, das eigene materielle Wohl zu garantieren. Der Bürokrat steckt seinen Zehnten aus allen Transaktionen zwischen Staat und Bürger in die eigene Tasche. „Kormlenie“ – Fütterung – nannte man es zu Zarenzeiten.

Inzwischen beschreitet die Präsidialverwaltung noch einen anderen Weg, um Vaterland zu verdrängen. Für einen Rücktritt von der Kandidatur bieten Kreml-Emissäre den Bewerbern horrende Summen. Treten ausreichend zurück, könnte laut Wahlgesetz das OVR noch ausgeschlossen werden. Bewerber Konstantin Satulin wurden 700.000 US Dollar geboten. Den Kontakt stellte der Bankier Mamut her, der zum engeren Kreis des Jelzin-Clans gehört. Die verängstigte Kreml-Kamarilla nimmt selbstverständlich auch an den Wahlen teil.

Boris Beresowski bemüht sich um ein Direktmandat in der nordkaukasischen Republik Karatschaio-Tscherkessien. Der Geldbote der Familie und Ölmilliardär Roman Abramowitsch bewirbt sich auf der Halbinsel Tschukotka im Fernen Osten um einen Duma-Sitz. 40.000 arme Rentierzüchter dürften ihn nicht enttäuschen. Schließlich kam Abramowitsch mit einem Flieger voller Geschenke. Gelingt der Sprung in die Duma, ist das Ziel erreicht: Immunität.

Im September hob der Kreml noch eine eigene Partei, Jedinstwo, Medwjed – Einheit, Bär –, aus der Taufe. Im virtuellen Charakter ähnelt sie dem gegnerischen Wahlverein OVR. Das Rückgrat der Union bilden auch Provinzgouverneure und Vertreter der regionalen Nomenklatura. Nachteil: der Kreml konnte nur noch eine zweite Garde um sich scharen.

Spitzenkandidat ist der Minister für Katastrophenfälle, Sergej Shoigu, dem Fernsehpublikum seit Jahren bestens vertraut. Der Zweite im Bunde, Ringer Alexander Kalenin, war einst Olympiasieger im griechisch-römischen Stil. Seit der kaukasische Sprengmeister und Premier Wladimir Putin dem Volk mitteilte, für ihn sei nur „Freund Shoigu“ wählbar, nimmt der „Bär“ gleich mehrere Sprossen auf der Popularitätsleiter. Denn Putin wird zu Hause wie ein nationaler Erlöser gefeiert.

Fazit: Parteien und Programme haben bei den Wahlen keine Bedeutung. Clans, die aus der zweiten Reihe der Nomenklatura stammen, lassen mit Hilfe der Stimmzettel über Verteilung und Garantien der Pfründen entscheiden. Immerhin ein Sieg der formellen Demokratie, da gewöhnlich offene Fragen in rechtsfreien Räumen geklärt werden.

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