: Russland im kollektiven Erlöserrausch
Die Duma-Wahlen werden zeigen, wer Chancen auf die Präsidentschaft hat. Erster Anwärter ist Premier Putin. Der Apparatschik ist zum Volkshelden mutiert. Dabei ist der Krieg sein Medium ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Als „Konstruktion WWP“ wurde er anfangs mitleidig belächelt. Als Wladimir Wladimirowitsch Putin im August auf die russische politische Bühne gehievt wurde, war er ein gesichtsloser Apparatschik, drahtig und unterkühlt. Eine Figur ohne Aura und Charisma. Wie sollte ausgerechnet sie das Volk von sich überzeugen können und noch die denkbar schwierigste Aufgabe lösen: nach dem Ende der Präsidentschaft die Fortführung des Hauses Jelzin sichern und die in Finanzskandale verwickelte Familie nebst Hofschranzen vor Strafverfolgung retten?
Die russische Öffentlichkeit sah in dem neu gekürten Zarewitsch daher nur einen weiteren Auswechselspieler, der, wie seine beiden Vorgänger, bald das Feld verlassen würde.
Bis zu den Präsidentschaftswahlen vergeht noch ein halbes Jahr. Die Wahlen zur Duma am kommenden Sonntag gelten unterdessen als Testlauf, wer sich für den Sommer in Position bringen kann. Die Aussichten des gelernten Geheimdienstmannes Putin stehen nicht schlecht. Der wortkarge Premier hat den bisherigen Günstling des Volkes, den altväterlichen Sowjetbürokraten Jewgeni Primakow, auf einen aussichtslosen Rang verwiesen.
Putin genießt im Volke Rückhalt wie kein anderer Politiker vor ihm seit den frühen Zeiten des Volkstribuns Boris Jelzin. Und das, obwohl die Mehrheit der Bürger in ihm zunächst nur einen gekauften Bauern sah und noch im August mit Verachtung strafte. Inzwischen schaut das Volk ergeben zu seinem neuen Erlöser auf.
Ob Kommunisten oder Liberale – Putin eint sie alle
Wladimir Putin ist schon zu Lebzeiten eine Legende. Die notorisch streitsüchtige und missgünstige russische Gesellschaft kennt keine Zwietracht mehr. Ärgste Rivalen erstarren in Andacht, sobald Wladimir Putin die Szene betritt. Ob Kommunist Gennadi Sjuganow oder der einstmals liberale Vortänzer Anatoli Tschubais – sie alle vereint der neue Mann. Wer es wagt, ihn zu kritisieren, läuft Gefahr, sich aus der Erlösergemeinde auszugrenzen. Nur eine Handvoll widersetzt sich der trügerischen Trance kollektiver Größe.
Was macht den bürokratenblassen Premier zu einem Hoffnungsträger und Volkshelden? Längst ist vergessen, worin seine Hauptaufgabe besteht – den Jelzin-Clan vor dem Gesetz zu schützen. Die Entschiedenheit, mit der der 47-jährige Jurist im Kaukasus „Banditen“ ausräuchern lässt und das Vaterland vor heimtückischen Terroranschlägen bewahrt, beeindruckt die Bürger. Sie fühlen sich wieder sicher. Dabei ist Putin nicht etwa ein besserer Patriot als der ehemalige Geheimdienstchef und Vorgängerpremier Jewgeni Primakow. Aber er ist jünger und ein Mann der Tat.
Den kometenhaften Aufstieg verdankt der Ministerpräsident dem Schulterschluss mit den Militärs. Die Generalität erhielt freie Hand, um in Tschetschenien Rache für den verlorenen ersten Krieg zu üben. Als Gegenleistung darf sich der kaukasische Sprengmeister vor laufenden Kameras allabendlich in Siegerpose werfen. Noch ist der Krieg sein Medium. Mahnungen des Westens, in Tschetschenien selbst die Regeln der Kriegsführung nicht zu missachten, müssen verpuffen.
Putin hat sich den Militärs ausgeliefert. Ihr Sieg ist auch sein Erfolg. Dem Westen kann er nur entgegenhalten, was Napoleon einst Metternich entgegnete: „Eure Exzellenzen könnt zwanzig Niederlagen erleiden und trotzdem in Eure Kapitale zurückkehren. Ich unterdessen bin ein einfacher Soldat, meine Herrschaft wird den Tag nicht überleben, an dem ich meine Stärke verliere und nicht mehr gefürchtet werde.“
Der Kriegsmeister in Moskau gab seinem Volk ein Gefühl der Größe und Überlegenheit zurück. Die von Niederlage zu Korruptionsskandal flüchtende Armee genießt wieder Anerkennung. Derweil der schmallippige Putin dem Westen, der für das Scheitern des Modernisierungsversuchs verantwortlich gemacht wird, aufrecht die Stirn bietet. Was wollte man mehr erwarten? Ein Patriot, eine starke Hand, die innen für Ordnung sorgt und nach außen Russlands Großmachtrolle zelebriert.
Sollte der Feldzug scheitern, dürfte der Teufelspakt mit der Generalität dem Premier zum Verhängnis werden. Die Logik verlangt, den Krieg hinauszuzögern oder zumindest Bedingungen zu schaffen, die die Präsenz der Armee im Kaukasus rechtfertigen. Solange kann sich der suspendierte KGB-Agent in Sicherheit wiegen. Jelzin wird es zur Zeit nicht wagen, den Premier zu entlassen. Ein neuer Anwärter, der die Gunst des Volkes genösse, lässt sich nicht mehr aus der Retorte ziehen.
Seit letzter Woche hätte der machtbesessene Präsident Jelzin indes allen Grund, dem Regierungschef zu misstrauen. Nach dem Auftritt des Zaren in Peking, den der Kremlchef nutzte, um Washington und den Westen lautstark an das atomare Zerstörungspotenzial Russlands zu erinnern, betrieb Putin in Moskau Schadensbegrenzung: Die Beziehungen zu den USA gäben keinen Anlass zu Besorgnis. Im Zusammenhang mit der westlichen Kritik an Tschetschenien räumte er sogar ein: „Ich glaube, wir sind verpflichtet, die Meinung unserer westlichen Partner zu respektieren.“
Früher wären die Tage eines Regierungschefs, der dem Kremlpatron in die Breitseite fährt, gezählt gewesen. Eigenständigkeit galt als Synonym für Illoyalität. Ist auch Jelzin den magischen Kräften des Wunderheilers erlegen? Oder begreift er nicht mehr, was um ihn herum geschieht?
Macht sich Putin, der nach dem Juraexamen 1975 ganz erpicht darauf gewesen sein soll, in die Dienste des KGB zu treten, womöglich selbstständig? Im Dumawahlkampf lieh „Privatmann“ Putin seine Popularität dem virtuellen Block des Präsidenten „Einheit & der Bär“, die vom Katastrophenminister Sergej Schoigu geleitet wird. Ein anerkennendes Wort über „Freund Schoigu“, und auch der Block schoss durch die Schubkraft des Premiers in der Wählergunst in die Höhe. Ob bei der Auszählung nach oben korrigiert wurde, spielt keine Rolle. Der Trend steht.
Derweil verbrachte der Handlungsreisende Putin mehr als die Hälfte seiner Amtszeit auf Reisen in die Provinz. Nach der Gunst des Volkes galt es, die Entscheidungsträger in den Regionen, die Gouverneure, zu gewinnen. Auf die Armee, den dritten Schutzwall, konnte er nach dem Kriegsentscheid ohnehin bauen. Noch manches Mal wird ihn die Armee daran schmerzhaft erinnern.
Es ist auffällig, wie sehr der Regierungschef ohne eigene Hausmacht bemüht ist, den Eindruck einer selbstständigen Kraft zu erwecken, die weder vom Clan der Jelzin-Familie noch den windigen Finanzoligarchen abhängig ist. Überhaupt meidet er tunlichst, sich in innenpolitischen Auseinandersetzungen festzulegen. Minister Germann Gref charakterisierte den starken Mann gar als überängstlichen Cunctator: „Sobald er einen Konflikt zwischen den Interessen der Finanzwelt und der Politik wittert, schiebt er die Sache von sich mit der Begründung, er wolle kein Richter sein.“ Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit nur im Falle Tschetscheniens. Knallharte Haltung nur dort, wo es die eigene Position nicht gefährdet?
Fest steht: Der jetzige Thronprätendent verkörpert mehr als einen Handlanger eines faulenden Systems oder eine Figur, die auf Gedeih und Verderb vom Willen des launischen Pantokrators im Kreml abhängig ist. Der langjährige Geheimdienstmann, der es 1998 zum Direktor des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, brachte, ist Protagonist eines spezifischen russischen Weges. Seine Biografie gibt Aufschluss, obgleich oder gerade weil seine Agenten-Legende Lücken aufweist. Fast siebzehn Jahre verbrachte Putin als Mitarbeiter der Auslandsaufklärung in der DDR. Offiziell überwachte er die deutsch-deutschen Kontakte und sondierte innenpolitische Stimmungen und Bündnistreue der Ostdeutschen. Ende der offiziellen Legende.
Nachhaltig geprägt hat ihn indes etwas anderes: die Wirtschaftsspionage an der Demarkationslinie zwischen Ost und West. Bereits 1984 hatte der sowjetische Generalstab gewarnt, die UdSSR könne mit der technologischen Entwicklung des Westens nicht standhalten. Was tun?
Zunächst versuchte man den Vorsprung aufzuholen, indem man Technologie aus dem Westen einfach entwendete. Putin arbeitete damals in Dresden in einer geheimen Abteilung, die Spione in Wissenschaftlerkreise einschleuste, die die DDR Richtung Westen verlassen wollten. Überdies nutzte seine Abteilung Kontakte zwischen dem DDR-Computerhersteller Robotron und den Westfirmen Siemens und IBM, um an Hochtechnologien heranzukommen. Das Unternehmen scheiterte, die hoch komplexe Technik ließ sich nicht einfach nachbauen.
Der KGB stand vor einem Dilemma: sich mit der Rückständigkeit abzufinden oder politische Voraussetzungen zu schaffen, um Technologietransfer zu ermöglichen und Investitionen nach Moskau zu locken. Das war die Geburtsstunde der Perestroika unter Michail Gorbatschow. 1989 kehrt Putin nach Leningrad zurück und dringt in die Reformkreise ein. 1992 avanciert er unter dem Reformer Anatoli Sobtschak zum stellvertretenden Bürgermeister der Metropole an der Newa.
Für Westfirmen, die sich in St. Petersburg niederlassen wollten, war Putin nunmehr die Schlüsselfigur. Bekannte Reformer aus der Stadt wie Anatoli Tschubais haben den zuverlässigen und kompetenten Mann daraufhin adoptiert, obgleich Putin seiner Vergangenheit nie abgeschworen hat. Der Großmachtideologie blieb der aufgeklärte Spion verhaftet.
In Putins Büro hängt ein Porträt Peters des Großen
Nachdem die Liberalen ihre Chance verspielt haben, scheint Russland den Perestroika –Kräften bei den Duma- und Präsidentschaftswahlen den Vorzug zu geben. Ob sie nun Putin oder Primakow heißen, ist nebensächlich. Ihre Wurzeln sind dieselben. Man wird versuchen, wieder einen starken Zentralstaat zu errichten und die regulierende Rolle des Staates in der Wirtschaft zu betonen. In der Isolation und Abschottung gegenüber dem Westen sehen diese Kräfte kein Allheilmittel. Investitionen und Austausch sind weiter erwünscht, jedoch dürften die Kontrollen verschärft werden.
In Wladimir Putins Büro hängt kein Bild von Jelzin. Wohl aber ein Porträt Peters des Großen, der seinem Staat im 18. Jahrhundert eine schmerzhafte Modernisierung oktroyierte, die das Land nach Westen öffnen sollte. Der Zar kannte kein Pardon. Diente es dem Projekt, war er brutal und bereit, die Waffen sprechen zu lassen ...
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