Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di soll Chancen für gute Arbeit organisieren, statt das Recht auf Arbeit zu beschwören: Raus aus dem Industriezeitalter!
Gegenüber unserem Gewerkschaftshaus prangt auf einem zehn mal zehn Meter großen Transparent der Text „Manchmal müssen Dinge sich ändern, damit sich etwas bewegt“. Ob uns da jemand etwas mitteilen will? Wir sehen ver.di als große Chance für einen neuen Aufbruch, befürchten jedoch, dass manch notwendige Veränderung nicht vorgenommen wird und man sich vielmehr zum „Weiter so“ mit alten Strukturen und Konzepten entschließt.
Die Arbeitswelt verändert sich rasant. Die Ablösung der Industriegesellschaft durch die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft schafft neue Arbeitsformen, neue Arbeitsbeziehungen und eine neue Ökonomie. Schon in naher Zukunft wird es viel mehr neue Arbeitsplatzformen wie Telearbeit aber auch neue Angestelltenberufe geben, vor allem im industriebezogenen Dienstleistungssektor. Dafür werden immer weniger Menschen tarifgeschützte, fest genormte Arbeitsplätze haben. Und die Informationsrevolution geht weiter. Das Internet wird neue Kommunikationswege hervorbringen und Arbeitsorte mit vielen Beschäftigten weiter schrumpfen lassen.
Die klassischen Organisationswege der Gewerkschaften werden deshalb immer enger und immer holziger. Trotzdem verharren viele ver.di-Programmatiker im Industriezeitalter. Sie nehmen die neue Welt, ihre Chancen und Herausforderungen nicht wahr. Sie können sich nicht vorstellen, dass Arbeit mit neuer Flexibilität bei Zeit und Ort, selbstverantwortlicher Auftragsfülle, individuellem Unternehmer/innengeist ein Gewinn sein könnte. Ein Gewinn im großen Spannungsfeld zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Mobilität und Familie, zwischen Hobby und Freunden.
Die Idee einer neuen Lebenskultur ist in Gewerkschaftskreisen noch nicht angekommen – und auch ein Zusammenschluss hin zur „Megagewerkschaft“ allein wird für dieses Ankommen nicht ausreichen, wenn keine neuen Visionen, keine neue politische Orientierung, kein verbessertes Dienstleistungsangebot, kein neues ökonomisches Denken, keine neuen Strukturen und kein neues Nachdenken über das Verhältnis von Mensch und Arbeit in die Gewerkschaften Einzug halten.
Die heutigen Arbeitnehmervertretungen haben ihre Stärken und Verdienste im Aushandeln von kollektiven Tarifverträgen, kollektiven Arbeitsrechten, Arbeitszeiten, Arbeitsschutzbestimmungen sowie Lohn- und Einkommenserhöhungen. Die neuen Angestellten und die Telearbeiter/innen werden jedoch nicht mehr in dem Maße wie bisher nach kollektiven Rahmenbedingungen arbeiten – und sie wollen es auch nicht mehr! Die heutigen Gewerkschaften und ihre Angebote und Leistungen sind Erzeugnisse der Industriegesellschaft. Sie haben in der Postmoderne keine Zukunft mehr – wenn sie nicht fortentwickelt und ergänzt werden. Über ihre Arbeitszeit entscheiden die neuen unternehmerischen Einzelnen zukünftig je nach Auftragslage und -dichte selbst. Die angenommenen Aufträge entscheiden auch über das jeweilige Einkommen. Trotzdem haben Gewerkschaften als Organisation vieler Einzelner unserer Meinung nach eine Zukunft: Sie müssen allerdings ihr Profil ändern, den neuen Herausforderungen mit neuen gewerkschaftlichen Angeboten begegnen.
ver.di sollte sich stark an den neuen Dienstleistungsbranchen orientieren. Neue Themen, neue gewerkschaftliche Leistungen könnten sein: Aushandeln von Honorarregeln oder Mindesteinkommen, Schaffung von Einkommenssicherheit in Zeiten von Berufswechseln, Familienphase oder schlechter Auftragslage, Vereinbarungen zu Weiterbildung und Freistellung für Qualifizierungen.
Über eine eigene Akademie von ver.di könnte die Gewerkschaft gezielt Fort- und Weiterbildungswünsche der Mitglieder aufnehmen und ihnen passende Programme anbieten. Gewerkschaften könnten ferner – im Sinne von Chancenmanagement – arbeitslosen Kolleginnen und Kollegen Jobbörsen anbieten und ihnen konkrete Hilfestellung geben, wenn sie erstmalig oder erneut in die Arbeitswelt einsteigen.
In diesem Kontext sei die Frage erlaubt, ob denn Arbeitslosenarbeit nicht sinnhafter dem DGB als konkrete Aufgabenstellung übertragen werden sollte. Arbeitslose Kolleginnen und Kollegen suchen nach unserer Auffassung in erster Linie – berufsspezifische – freie Stellen und orientieren sich nicht primär an ihrem Wirtschaftszweig. Für ver.di heißt das: nicht das Recht auf Arbeit beschwören, sondern Chancen für gute Arbeit organisieren!
Brauchen wir ver.di 24? Wenn wir über das Neue an einer neuen Gewerkschaft schreiben, dann stellt sich auch die Frage nach der Dienstleistungsqualität der neuen Organisation. Nach unserer Auffassung entscheidet zukünftig immer weniger die kämpferische Geste, die laute Trillerpfeife und die obligatorische Arbeitgeberbeschimpfung über die Mitgliederzufriedenheit. Unsere Mitglieder sehen sich als „Kunden“, sie werden uns stärker als in der Vergangenheit an unseren Lösungsangeboten, an den von uns gewählten Mitteln und Wegen und an unseren Ergebnissen messen.
ver.di 24 heißt für uns, dass wir zum Beispiel Mitgliedern, die beruflich viel unterwegs sind, 24 Stunden am Tag über unsere Homepage im Internet und über E-Mail-Briefkästen das Angebot unterbreiten, ihre Probleme, Fragen, Beratungsbedarfe auf diesem Wege an uns heranzutragen. Sie müssten dann auf schnellem Wege aufgenommen, bearbeitet und beantwortet werden. Die Stewardess, die abends von ihrem Frankfurter Hotelzimmer aus an ver.di 24 mailt, sollte die Antwort am nächsten Abend aus ihrem Tokioter Hotel abrufen können – ebenfalls per E-Mail. Und warum sollte die neue Dienstleistungsgewerkschaft kein Servicebüro im Leipziger Hauptbahnhof unterhalten, das jeden Tag geöffnet hat? Warum schaffen wir kein Call-Center, damit unsere Mitglieder rund um die Uhr ihre Sorgen, ihre Fragen loswerden können?
Wir sehen ver.di als eine Kombination aus Online- und Berater-Gewerkschaft, die zu besserem persönlichem Service führt! Das Projekt dieser neuen Gewerkschaft beinhaltet noch sehr viele Fragen und manches Ungereimte. Auch wir wissen auf vieles noch keine Antworten. Aber wir möchten sie – gemeinsam mit anderen – finden. Sicher ist für uns nur: Attraktivität gewinnt man nicht dadurch, dass man sie einfach ausruft. Attraktivität hat viel mit unserem Erscheinungsbild zu tun. Dienstleistung setzt einen Dienstleister voraus und einen entsprechenden Willen. Eben den haben wir und sehen ihn auch bei vielen unserer Kolleg/innen. Schauen Sie doch mal herein – ab 2001 vielleicht unter http://ver.di.de!
W. Albrecht, S. Kühhirt,
F. Steibli und U. Tamm
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