: Der Glöckner von Rotterdam
■ Der niederländische Oscar-Gewinner „Karakter“ erzählt ein Vater-Sohn-Drama in den Kulissen der Hamburger Speicherstadt
Die Kamera kreist, torkelt, springt, fliegt. Legt Netzlinien um ihre Figuren. Zieht sie wie fette Ratten aus den Kanälen. Lauert ihnen in der Dunkelheit auf, um sie mit den Schatten der Stadt zu schlagen oder den Steinen gleichzumachen.
Einem Ophüls'schen Derwisch gleich ist Mike van Diems Kamera-Auge in ständiger Bewegung, als wolle er durch die Beschwörung der Möglichkeiten des Mediums auch seinen Protagonisten jenes Leben einhauchen, das im Modus des Melodramatischen zur psychologischen Wahrheit des Subjekts gerinnen soll. Vor dem Gesetz gibt es aber keine Wahrheit, heißt es am entscheidenden Wendepunkt von Karakter einmal, sondern nur Beweise. Auch der Regisseur scheint es dabei belassen zu wollen. Bei den Beweisen. Zugegebenermaßen: virtuos inszenierten, die allerdings nie über die Schematik der archetypischen family romance hinwegtäuschen.
Weil das 20. Jahrhundert wohl auch, so sagen manche, ein Jahrhundert der Psychoanalyse war, erzählt Mike van Diem die Familie noch einmal mittels deren liebstem Narrativ: König Ödipus. Weil der aber schon öfters seinen Auftritt hatte, tut er dies in Bildern seines ersten Meis-ters: Franz Kafka. Und erst recht den Kinobildern, die man sich seit Orson Welles von diesen Bildern gemacht hat. Fehlt dann nur noch Charles Dickens, um sich darüber zu verständigen, was für ein Mäntelchen der stets kastrierende Phallus des symbolischen law without compassion sich übergestreift hat. Das eines durch und durch verkommenen viktorianischen Schurken nämlich.
Karakter beginnt wie ein Thriller, um seinen Vater-Sohn-Konflikt dann in einer Reihe von Flashbacks zu entfalten. Katadreuffe (Fedja van Huet) ist der in proletarischen Verhältnissen geborene, illegitime Sohn des unbarmherzigen Schuldeneintreibers Dreverhaven (Jan Decleir), vor dem das gesamte, in der Hamburger Speicherstadt gefilmte, Rotterdam der 20er Jahre zittert. Vom Laufburschen dient sich Katadreuffe durch seinen Aufstiegswillen und seine Askesebereitschaft nach oben – um sich wie seinem gespensterhaft im Hintergrund agierenden Vater zu beweisen.
Kein Wunder demnach, dass Karakter bei der Oscar-Verleihung 1998 als bester ausländischer Film prämiert wurde. Derartig puritanische Geschichten liebt man in den USA – genauso wie den Blick auf die Gassen der Alten Welt. Wenn das period setting stimmt, darf bei so viel gothic horror sogar ein anderes einst in Europa umgehendes Gespenst für einen kurzen Moment soufflieren. Denn verbirgt sich hinter der sozialen Revolution nicht auch ein wohlbekannter Agent? Wenigstens ein bisschen? Nein, nicht Luzifer, den Godard und die Rolling Stones haftbar machen wollten, the winner is, natürlich, Ödipus himself.
In den Kämpfen des Jahres 1923 stehen sie sich denn auch gegenüber: Dreverhaven, die Dickens'sche Akkumulationsfratze, den auch die Barrikaden von seiner Mission nicht abhalten, und derauf seine Charaktermaske gerichtete Revolver. Doch Dreverhaven, der Übervater, sieht darin nicht den Kommunisten, sondern alleine jene andere Maske, die ihm die Welt in ihrer Gänze zu erschließen scheint: die des Sohnes. Ganz kurz nur, für einen Moment, den der Zuschauer filmisch teilt; eine geschickte Irritation auf den Schatten des historischen Pflasters, die für Karakter allerdings bezeichnend ist. Denn da wäre bereits zu merken gewesen, dass es Verhältnisse gibt, in denen weder Väter noch Söhne heimisch sind. Wenn Dreverhaven dann ganz am Ende Hab und Gut dem Sohn vermacht, das Testament endlich bekennend mit „Vater“ unterzeichnet, ist Karakter so doch wieder nur ganz am Anfang seines Problems angelangt. Aus dem Sohn wird ein Vater werden. So sicher, wie die Signatur ein Happy-End besiegeln will. Tobias Nagl
Preview mit Gästen, Abaton, heute, 20 Uhr
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