: Zurück in die Zukunft
Und? Gut gelandet im neuen Jahrtausend? Nein? Dann hilft vielleicht ein Blick zurück. Der amerikanischer Science-Fiction-Autor Edward Ballamy hat schon 1887 das Jahr 2000 beschrieben – und in diesem Rückblick auch gedacht, es sehe ganz anders aus ■ Von Ludger Lütkehaus
Nichts ist älter als die Utopie von gestern: Dieser Satz scheint auf die erfolgreichste literarische Utopie des 19. Jahrhunderts am meisten zuzutreffen, Edward Bellamys Roma „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“, 1888 in der amerikanischen Erstausgabe erschienen, 1890 bereits in der 21. Auflage, im selben Jahr unter anderem ins Deutsche, insgesamt in über 20 Sprachen übersetzt. Zahllose Bellamy-Klubs wurden in den USA gegründet, die seine Vorstellungen realisieren wollten. Bellamy (1850–1898), Predigersohn, Anwalt, Journalist, avancierte zum prominentesten Vorkämpfer einer neuen Zeit.
Doch heute, in der Epoche des konkurrenzlos globalisierten Kapitalismus, der keine Alternativen mehr kennt, ist die von Bellamy vorgedachte Gesellschaft ferner denn je. Die Verheißungen einer ausbeutungs- und krisenfreien Kooperations- und Planungsgesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen gelohnt werden soll, den ganzen schönen Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft – das alles, mit dem bekannten desaströsen Resultat, hatten wir doch schon. Hatten wir es schon?
Ein müder oder zynischer Realismus, der sich etwas auf seine Enttäuschungsfestigkeit zugute tut, wird sich schnell über die Inhalte von Bellamys Utopie mokieren. Immerhin gibt die literarische Pointe seiner Romankonstruktion zu denken. Sie ist auch im Genre der Utopien originell und raffinierter, als es sich die antiutopische Schulweisheit träumen lässt. Bellamy verbindet utopischen Vorblick und historischen Rückblick so, dass er die Zukunft des Jahres 2000 als Gegenwart inszeniert und seine eigene Zeit in die Perspektive einer endgültig abgelebten Vergangenheit rückt. Wenn nach dem Wort Friedrich Schlegels der Historiker der rückwärts gekehrte Prophet ist, so ist hier der Utopist der vorwärts gekehrte Gegenwartshistoriker. Und die Leser des Jahres 2000 haben die – freilich zwiespältige – Gelegenheit, vom Standpunkt seiner Utopie aus einen distanzierten Blick auf die eigene Gegenwart werfen zu können, ironischerweise just in dem Moment, wo von Gnaden des Jahres mit den drei Nullen Bellamys Utopie wenigstens chronologisch eingeholt wird: Auf den 28. Dezember 2000 hat Bellamy das Vorwort seiner Utopie datiert.
Alles beginnt am 30. Mai 1887, dem decoration day, an dem die Nordstaaten der Soldaten des Sezessionskrieges gedenken. Der reiche und müßige Bostoner Bürger Julian West, Mitglied jeder leisure class, jener nichtsnutzigen Klasse, die der norwegisch-amerikanische Soziologe Thorstein Veblen wenig später analysieren wird, kann einmal mehr nur dank einer hypnotischen Suggestion Schlaf finden, diesmal aber so gründlich, dass er erst nach einem 113-jährigen Winterschlaf am 10. September 2000 wieder aufwacht, wohlbehalten. Bellamy transponiert jene Konservierungsmythen, die sich in Europa mit der Geschichte der Bergwerke von Falun verbinden, nach Boston. In der neuen Welt findet sein Held sich in der neuesten aller Welten wieder.
Als historisch hoch qualifizierter Augenzeuge wird er bereitwillig von der Gesellschaft des Jahres 2000 aufgenommen. Sie hat auf den ersten Blick kaum noch Ähnlichkeiten mit der von 1887. Mittels einer gewaltfreien Evolution ist der Weg von der ehemaligen Klassengesellschaft – Bellamy nennt die „Klassen“ „Nationen“ einer zerrissenen Gesamtnation – zu einem Gemeinwesen zurückgelegt worden, das den materiellen Bedürfnissen aller seiner Mitglieder gerecht wird und seine humanen Eigenschaften voll entwickelt hat. Die soziale Frage ist gelöst, der Gegensatz von Kapital und Arbeit, riesigen Konzernen und noch riesigeren Arbeiter- und Arbeitslosenheeren aufgehoben. Die Produktion ist wie die Distribution „nationalisiert“, vergesellschaftet – heute würde man diese Konzeption wohl so diskreditieren, wie man sie zur Zeit Bellamys diskreditiert hat: als amerikanische Variante des Sozialismus. Aber das träfe Bellamys Intentionen nicht. Er denkt, christlich inspiriert, eher an ein „kommunitaristisch genossenschaftlich“ organisiertes Gemeinwesen.
Nach einem mehrjährigen Grund-„Arbeitsdienst“ – nun ja, es steht so da – wird den individuellen Begabungen und Wünschen Raum gegeben. Der Arbeitslohn ist gleich. In letzter Instanz begründet das gleiche Menschsein den Anspruch auf gleichen Unterhalt. Mit der Ausbeutung und Entwürdigung des Menschen durch den Menschen ist es vorbei. Die neuerdings so gern diskutierte „Politik der Würde“ ist in dieser Utopie realisiert.
Das Geld ist abgeschafft: Das ist der älteste aller utopischen Ladenhüter; stattdessen nur noch eine Kreditkarte, das ist der neueste Schrei, mit einem jährlichen Freibetrag, von dem nach den individuellen Konsumwünschen abgebucht wird. Kein Elend, kein Hunger, kein Mord und Selbstmord, keine Slums, keine Zuchthäuser, kaum noch Gerüchte, keine Banken und Börsen, keine Steuern und Bürokraten. Der gesellschaftliche Reichtum ist so riesig geworden, weil es dank einer umfassenden Kooperation und rationellen Planung keine Reibungsverluste, keine Krisenzyklen, keine Über- und Unterproduktion mehr gibt.
Von der alten Konkurrenzgesellschaft, die früher nur die wölfische Natur des Menschen entwickelte, ist allein der Impuls, sich im Dienst am Gemeinwohl auszuzeichnen, geblieben. Für Besitzgier fehlt jedes Motiv. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, der gesellschaftliche Reichtum die humanen Motive. Und außen ist es wie innen: Ein Weltstaatenbund kennt keine Kriege, kein bellum omnium contra omnes mehr.
Dass die Kreditkarte in Europa wie in Amerika gilt, ist auch das Utopischste an Organisation. Vor allem in technischer Hinsicht werden die Leser des Jahres 2000 von Bellamy nicht mit den Segnungen verfolgt, die sie inzwischen sattsam kennen und die die Gattung „Science Fiction“ zum Horrorkabinett eines nicht mehr verhinderbaren Fortschritts machen. Allein die Technologie der Tonträger wird auf eine rührend altbackene Weise vorweggenommen: Per Telefon schaltet man sich je nach Geschmack in die landesweit und rund um die Uhr aufgeführten Musikprogramme ein. Und wo früher Egozentrismus bei Regen seinen höchst persönlichen Schirm aufspannte, schützt nun ein Dach real und symbolisch die Gemeinschaft. Kultur, Wissenschaft, Bildung stehen demgemäß in schönster Blüte. Zumal die Bibliotheken, in denen man früher die Bücher dem Publikum tunlichst zugänglich machte, sind Räume eines grenzenlosen geistigen Verkehrs.
Bei allem so wünschenswert Neuem hat indes das Edelste des Jahres 1887 auch im Jahr 2000 überlebt: die Liebe. Ja, nun, wo die Frauen emanzipiert sind, ohne assimiliert zu sein, erblühen sie erst richtig. Julian West darf zum seligen Ende, denn auch in Utopia macht die Heirat den Schluss, die Urenkelin seiner ehemaligen Verlobten ehelichen. Und sie lohnt ihm mit demselben hold errötenden Entzücken, das einst der schönste Schmuck ihres Geschlechtes war. Zwischen den Geschlechtern scheint selbst unter fortgeschrittensten Bedingungen auf das Konstanzprinzip Verlass. Auch die Sprache ist noch so gemeinsam, dass man einander mit den nötigen sachlichen Erläuterungen sofort versteht: eine trotz Utopie weiterhin geteilte Welt.
Wenn den Lesern des Jahres 2000 trotzdem der Glaube fehlen wird, so deshalb, weil ihnen eine gewaltfreie Evolution zum Humaneren und Sozialeren ebenso unwahrscheinlich wie die Revolution geworden ist. Weil sie zu wissen glauben, dass das Projekt einer zugleich sozialen wie freien, gerechten wie generösen Gesellschaft inzwischen hoffnungslos verabschiedet ist. Weil ihnen jede Form der Vergesellschaftung mit dem Tod des Individuums, jede Form gesellschaftlicher Planung mit Zentralismus und Diktatur gleichbedeutend scheint.
Tatsächlich hat der obligate Idealismus der Utopien mitsamt der damit einhergehenden Blässe auch vor Bellamys Roman nicht Halt gemacht. Ausgerechnet im kapitalistischsten aller Länder soll die humane und soziale Evolution stattfinden. Bellamy selbst offenbart sich für einen Moment als Skeptiker, wenn er seinen jugendfrischen Methusalem für einen kurzen Albtraum wieder aus dem Jahr 2000 ins Jahr 1887 zurückversetzt.
Ernst Bloch, der Bellamy im „Prinzip Hoffnung“ ein paar eindringliche Seiten widmete, schien diese Utopie des Jahres 2000 nicht einmal utopisch genug. Und in Bezug auf die Versöhnung des Menschen mit der Natur – neben der mit dem Menschen das älteste utopische Projekt – hat er zweifellos Recht: „Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet der letzteren nannte man früher Natur.“
Die andere Seite der Utopie ist indessen seit je die Kritik. Und gerade in jenem Albtraumkapitel, in dem Bellamys Held in seine Gegenwart zurückfällt, die immer noch eine fatale Ähnlichkeit mit der unsrigen hat, hält er in einer nun nicht mehr utopisch blassen, sondern überaus drastischen Sprache ihr und uns den Spiegel vor: einer Gesellschaft, die den ökonomischen Wohlstand und den sozialen Verkehr nur auf die miserabelsten menschlichen Eigenschaften gründen zu können glaubt; die den Reichtum als ihren Götzen verehrt, ihn aber verschwendet und verschleudert wie keine Gesellschaft zuvor; die von Globalisierung, Vernetzung, Fusionen, Synergieeffekten und ähnlich schönen Dingen faselt, aber Planung und Organisation nur in privat-eigentümlichen Unternehmungen kennt.
Man muss Bellamys Gedankenexperiment nur noch einmal in die Zukunft verlängern: Man stelle sich vor, die Leser des Jahres 2113 blickten für die Dauer eines Romans auf das Jahr 2000 zurück. Der Anblick wird kein angenehmer sein.
Edward Bellamys „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ ist in der Übersetzung von Georg von Gizycki greifbar im Reclam Verlag, Stuttgart, 304 Seiten, 12 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen