Die Grünen sind zwanzig Jahre alt geworden. Ein Hamburger Gründungsmitglied bilanziert Lust und Frust mit dieser Partei
: Bloß nicht etabliert sein

Inzwischen gibt es die fröhlichen Schlammschlachten auch bei den Volksparteien

Hamburger Schanzenviertel, im Sommer 1981. In einem abrissreifen, tristen Häuschen mit Bretterverkleidung sitzt eine Runde von 20- bis 30-Jährigen. Man trägt Anorak oder schwarzes Leder, auf jeden Fall Jeans. Dann gibt es noch einige Ältere mit Bewegungserfahrung, also im Parka. Wer in Hamburg Politik auf der Straße machen will, muss wasserdicht gekleidet sein. Was die Runde beratschlagt, ist schiere Ketzerei: Plant man doch den Aufbau einer Alternativen Liste nach Westberliner Vorbild, die dort zusammen mit den Grünen schon den Sprung ins Abgeordnetenhaus der Mauerstadt geschafft haben. Plötzlich wollen wir von der Straße ins Trockene. Das hätten wir von uns selbst nicht gedacht.

Denn jahrelang hatten wir unermüdlich vor dem Parlamentarismus gewarnt. Beim Aktionskreis Leben, der im DGB gegen Atomkraftwerke kämpfte. In den Bürgerinitiativen Umweltschutz Unterelbe. Im Sommercamp gegen die geplante Plutoniumfabrik in Gorleben. Die Logik war: Bewegung gegen System. Landkommunen gegen Metropolen. Öko-Wendland gegen Schmidts Modell Deutschland.

Die Breite des Protests war beeindruckend, machte Mut, machte Lust auf mehr. Auf den Friedensdemonstrationen standen die Leute so eng gepresst aneinander, dass man die Beine anziehen konnte, ohne hinzufallen – nie habe ich Solidarität so körperlich erlebt. Und der Staat tat uns den Gefallen, durch eine selten geniale Mischung aus Unbeholfenheit und Sturheit zu unserer besten Werbeagentur zu werden.

Am Hamburger Elbufer in Oevelgönne mahnte zwar noch trotzig ein anonymer Schriftzug: „Wenn Wahlen was verändern könnten, wären sie verboten“. Doch die Diskussion ließ sich nicht mehr aufhalten. Wir wollten eine Alternative, etwas ganz anderes, aber keine Partei.

Der Unwille, Partei zu sein, und die Unvermeidlichkeit, es dennoch zu werden, der Widerwille gegen das Parlament und die herausfordernde Bekanntschaft mit ihm, schließlich der stumme Zwang der Verfassung: Es entstand ein barocker Selbstschutz gegen politische Entwicklung. Zusammengefasst wurde dies unter dem Symbolwort der „Basisdemokratie“, so schrullig wie lähmend bis heute. Pressekontakte waren geradezu angstbesetzt. Niemandem war erlaubt, allein mit einem Journalisten zu reden; ihr erstes Pressegespräch führte die Alternative Liste in Hamburg zu siebt. Man kann sich die entnervten Gesprächspartner vorstellen. („Also, was denn nun?“)

Dennoch wäre niemand von uns damals auf den Gedanken gekommen, der „Anti-Parteien-Partei“ etwa aus Effizienzgründen den Rücken zu kehren. Das schwierige Geschäft mit der grünen Basisdemokratie war für uns ein gelebtes politisches Experiment, und es schuf ungeheure Freiräume. Jeder Bürger durfte an unseren Fraktionssitzungen teilnehmen; und die Wenigen, die das wussten und kamen, waren oft nicht ganz leicht zu nehmen. („Er nun wieder!“)

Die Grünen etablierten das freieste Parteimodell, das es bisher in Deutschland gab. Bis heute kann ich als Mitglied ungestraft meine Partei kritisieren und muss noch nicht mal Nachteile befürchten – wo kann ich das sonst? Sicher, die Volksparteien haben sich äußerlich, frech wie Oskar, vieles von den Grünen abgeguckt. Heute streiten ihre Prominenten mit dem Kind auf dem Arm vom Balkon runter mit der Partei (viele Grüne können das nicht, sie haben keine Kinder); aber die Strukturen von SPD und CDU sind inzwischen zentralistischer und patriarchischer denn je. Münteferings Parteiseelsorge macht die SPD nicht demokratischer. Die Grünen hatten immer den Mut, ihren Streit öffentlich auszutragen, und wurden deshalb von Willy Brandt bezeichnet als die „Partei, die den sanften Weg propagiert und selber so hart mit sich umgeht“. So waren wir, aber inzwischen ist dieses Prinzip der fröhlichen Schlammschlacht auch bei den großen Volksparteien angekommen. Und es ist besser, dass das endlich alles rauskommt, als dass jemand ernstlich krank wird.

1980 waren die Grünen die Kraft des Neuen, die sich ganz selbstverständlich auf die „neuen sozialen Bewegungen“ berief. Was die Grünen damals nicht sehen konnten: Ebenso wie die Naturschützer, die Feministinnen, die Pazifisten und die Hausbesetzer unterlagen sie einer romantischen Selbstwahrnehmung. Es war der Glaube, Subjekt einer politischen Zeitenwende zu sein. Und hier liegt eine geistige Wurzel für grüne Naivität und Strukturkonservativität. Eine „sonstige politische Vereinigung“ warf allen „Altparteien“ den Fehdehandschuh hin und erklärte sich zur einzigen echten Opposition. Die Grünen übersetzten damit das Selbstgefühl der „Bewegungen“ ins Parlamentarische. Daraus entsprang die authentische Moralität einer Petra Kelly, aber auch die rhetorische Schärfe eines Joschka Fischer und der sarkastische Witz eines Thomas Ebermann.

Die Grünen etablierten das freieste Parteimodell, das es in Deutschland gab

Die Erkenntnis der „Grenzen des Wachstums“ gilt heute vielen als wirkliche zivilisatorische Zäsur. Gewiss sind die BRD-Grünen damals der parlamentarische Katalysator dieses Umbruchs gewesen, und später sind sie zum Vorbild für Parteigründungen in aller Welt geworden. Aber das romantische Selbstbild des geschichtslos Neuen hat uns damals auch arrogant gemacht. Nach hinten, in die Vergangenheit, und auch nach vorn.

Bedenkenlos gingen wir über die Parteiengeschichte hinweg und zelebrierten Praktiken wie das imperative Mandat, ohne nach seiner düsteren Herkunft zu fragen. Wir waren ja über jeden Zweifel erhaben, also brauchten wir die Reichstags-Archive nicht zu bemühen. Und genauso statisch definierten wir unsere Zukunft. Das Gros der alten grünen Satzungsregelungen liest sich heute wie ein Hexenhammer gegen die Verderbnis des parlamentarischen Geländes, auf das wir uns wagten. Nicht-Beeinflussbarkeit wurde zu einem moralischen Trumpf. Alles, was dem Gegner strukturell glich, war anrüchig. Der ganze grüne Diskurs über die eigene Authentizität trägt den Wunsch in sich, ein abstraktes Anderssein zu bewahren. Viele Parteitagsschlachten sind in den letzten Jahren siegreich ausgefochten worden mit dem konservativen Argument der Programmtreue – ohne Rücksicht auf die fortgaloppierende Wirklichkeit.

Politischer Wandel ist jedoch keine Einbahnstraße – schon gar nicht in einer kritischen, gut gebildeten Gesellschaft. Immobile Parteien werden in Zukunft noch weniger Chancen haben als heute. Auch wenn sie als Strukturen vielleicht noch lange überdauern. Wenn ich heute noch mal durch die Altonaer Straße komme, steht das leere Bretterhaus immer noch da. Wer hätte damals, als wir dort saßen, gedacht, dass es so lange halten würde? Kurt Edler