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Ein arm Kind

„ . . . und träumte von Schiffen, aufkommendem Sturm, flatternden Segeln“: Zoë Jenny hat ein neues Buch geschrieben. Es heißt „Der Ruf des Muschelhorns“ ■ Von Kolja Mensing

Man müsste mit dem Märchen anfangen, das die Großmutter in Büchners „Woyzeck“ erzählt: „Es war einmal ein arm Kind und hatt kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.“ Das Kind macht sich auf die Suche nach Tag und Nacht, und was es findet, ist ein Mond aus faulem Holz und eine Sonne wie ein „verwelkt Sonnenblum“.

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„Warum heißen die Sonnenblumen eigentlich Sonnenblumen“?, fragt Eliza, die von ihrem Vater und ihrer Mutter allein gelassen worden ist, im ersten Kapitel von Zoë Jennys neuem Roman „Der Ruf des Muschelhorns“ ihre Großmutter Augusta. „Die Sonnenblumen sind kleinere vom Himmel zur Erde gestürzte Sonnen. Auf ihrer langen Reise haben sie sich abgekühlt und versuchen jetzt, mit ihren Wurzelarmen die Wärme aus dem Inneren der Erde zu holen“, erklärt die Großmutter, und sie meint: Wärme gibt es nur tief unter der Erde, im mythischen Untergrund der Welt. Dass wir ohne diesen Untergrund auskommen müssen, davon hat Büchner geschrieben: „Hohl, hörst du? Alles hohl da unten“, sagt Woyzeck, das Ohr im Gras.

Es weht kalt durch Zoë Jennys Roman. Diesen kalten Hauch mit Büchner zu beschreiben, das wäre Literaturkritik, ganz klassisch. Aber –

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Man muss sich an die Spielregeln halten, und das Spiel, das hier gespielt wird, heißt nicht „Literaturkritik“. Es heißt „Paketlösung“.

Es begann 1997. Die Frankfurter Verlagsanstalt veröffentlichte „Das Blütenstaubzimmer“, Zoë Jennys Debütroman. Die Autorin war damals gerade mal 23 Jahre alt, im „Blütenstaubzimmer“ ging es unter anderem um die Selbstbezogenheit der 68er-Elterngeneration. Das passte gut. Die Autorin war auch sehr schön, mit großen, traurigen Augen, genauso traurig und so schön wie ihr Buch – und wie ihre Protagonistin, Jo, eine junge Frau. Das passte noch besser. Man konnte ernsthafte Interviews führen, hübsche Porträts schreiben, die ganze Sache war fernsehtauglich, perfekt. Dazu kam, dass „Das Blütenstaubzimmer“ ein handwerklich gelungener Roman war. Die Paketlösungsexperten des deutschen Literaturbetriebs schnürten das alles zusammen und verkündeten den Aufbruch einer neuen Schriftsteller- und Schriftstellerinnen-Generation. Mit Zoë Jenny setzte das so genannte literarische „Fräuleinwunder“ ein.

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Man müsste über den Schock schreiben. Im dritten Kapitel zum Beispiel. Eliza kommt, nachdem die Großmutter gestorben ist, erst in ein Waisenhaus und dann zu Adoptiveltern. Sie heißen Herr und Frau Rosenberg. Sie entwirft Mode, er ist Logopäde, und ihre Ehe funktioniert nur noch, weil sie sich selten sehen.

Eines Nachts, seine Frau ist wieder einmal auf Geschäftsreisen, kommt Herr Rosenberg in Elizas Zimmer. Er nimmt das Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt etwa 12 Jahre alt ist, auf den Arm und trägt es ins Ehebett. Später ist im Laken ein Blutfleck, und was auf den ersten Blick wie eine Missbrauchsszene aussieht, über die man sich erschrecken sollte, wird als Anfang einer Mädchenromanze erzählt: „Eliza schob den Kopf auf seine Brust, die sich hob und senkte, und träumte von Schiffen, aufkommendem Sturm, flatternden Segeln.“ Ein schöner Traum. Es ist einer der Momente, wo man „Der Ruf des Muschelhorns“ nicht sofort versteht. Man erschrickt.

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Zoë Jennys zweiter Roman war von Anfang an Teil der Paketlösung, und die Spielregeln waren klar, bevor er überhaupt gedruckt wurde. Verlag und Buchhandel sind angehalten, sich uneingeschränkt auf den neuen Roman zu freuen, da er ökonomischen Gewinn verspricht, und die so genannten Literaturkritiker – das ist eine der wichtigsten Spielregeln – müssen sich ärgern.

Nachdem man also das Leseexemplar von Zoë Jennys „Der Ruf des Muschelhorns“ mit der Bitte, vor dem 21. Januar dieses Jahres keine Besprechungen zu veröffentlichen, in die Hand gedrückt bekommen hatte, hätte man natürlich sehr genau wissen können, dass der Spiegel – der sich immer am eifrigsten an solche Spielregeln hält – das Buch natürlich a) bereits am 17. Januar bespricht und es b) schlecht bespricht. Denn wer ein schönes Debüt geschrieben hat in diesem Land, der muss für sein zweites Buch erst einmal einen Rüffel bekommen.

So sind die Spielregeln. Und jetzt hat man die Wahl. Man kann sich mit ärgern (nicht sehr originell) oder man kann das Buch verteidigen (auch nicht besonders originell). Auch wenn man nicht mitspielt, spielt man mit.

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Man müsste über den Titel reden. Da kann man eigentlich nichts falsch machen. Der Verlag hat schon mal durchsickern lassen, dass „Der Ruf des Muschelhorns“ ein Zitat ist, damit man sich nicht blamiert. Das erste Kapitel in William Goldings Roman „Herr der Fliegen“ ist so überschrieben. Keine Frage, das ist ausbaufähig.

Man könnte allerdings auch diese Stelle zitieren: „Großvater hatte die Muschel vor langen Jahren einmal von einer Reise in die Südsee mitgebracht, und Augusta erzählte, die Inselbewohner dort hätten das Muschelhorn als Instrument benützt, um sich über weite Strecken hinweg zu verständigen.“ Darum geht es: um Sprache, um Verständigung. „Der Ruf des Muschelhorns“ ist ein Märchen, Eliza zunächst ein Mädchen, dann eine junge Frau, die auszieht, das Sprechen zu lernen. Sie lernt es nicht. So lernt sie, dass Verständigung, wenn überhaupt, nur über sehr, sehr weite Strecken hinweg möglich ist. Eigentlich gar nicht. Es herrscht Krieg, die Welt zerfällt, vielleicht war sie nie ganz. Das ist die kalte Philosophie in diesem Roman.

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Die Sprache, die Welt, die Philosophie, der Krieg – man müsste das alles erklären. Eigentlich. Aber 240 Zeitungszeilen müssen reichen, um das zweite Buch einer vor drei Jahren gefeierten Debütantin zu besprechen. Das hier ist Zeile 207.

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Man müsste einen von diesen Menschen kennen. Es gibt sie ja wirklich. Sie lesen ein Buch, und sie wollen gar nicht darüber reden. Sie sind einfach nur auf der Suche, nach Bildern, nach Gedanken oder so. Einem dieser Menschen hätte man gern „Der Ruf des Muschelhorns“ geschenkt (das Leseexemplar, auch vor dem 21. Januar). Er hätte ganz bestimmt etwas darin gefunden. Einen Gedanken so traurig, dass er glücklich macht. Ein Bild so kaputt, dass die Welt für einen kurzen Moment wie aus einem Stück ist. Vielleicht hätte man diesem Menschen beim Lesen zusehen dürfen, wenn man ihm nur versprochen hätte zu schweigen. Darum geht es. Ums Schweigen. „Eliza hatte schon seit Tagen kein Wort mehr gesprochen.“ Dieser Satz steht ganz am Schluss.

Zoë Jenny: „Der Ruf des Muschelhorns“. FVA, Frankfurt am Main 2000, 123 Seiten, 29,80 DM

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