: Der Buhmann der Wurzelgrünen
Umweltminister Trittin spürt in Kiel den Unmut der Anti-AKW-Basis ■ Von Peter Ahrens
Ein Abtrünniger ist zu Gast, vielleicht gar ein Verräter. Vor zwei Jahren hätte Jürgen Trittin hier noch ein Heimspiel gehabt. Doch jetzt nimmt die Anti-Atomgemeinde übel. Hier in Wahlkampf zu machen, wäre zwecklos, und das weiß der Bundesumweltminister. Er ist auch ohne das in Erklärungsnot genug – der einst unverbrüchlichen Stammwählerschaft muss er erklären, warum sich das mit dem Ausstieg derart verzögert. Die Initiative der Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges hat nach Kiel geladen, und Trittin ist der Buhmann.
Hier sitzen die Wurzelgrünen zusammen. Die Bärte sind grau geworden, der Widerstand gegen die Atomindustrie geht ins dritte Jahrzehnt. Hier begrüßt man sich mit „Wir kennen uns doch aus Krümmel“. Die Bibel der Gemeinde ist Holger Strohms Die friedliche Katastrophe. Die Neuauflage klemmt unterm Arm.
Trittin ist für viele von ihnen inzwischen ein „Lügner“, und das geben sie ihm auch deutlich zu verstehen. Immer wieder Zwischenrufe, Pfui und Buh. „Dem kann ich doch keinen Deut mehr vertrauen als der Merkel“, sagt einer und winkt ab, als der Minister auf die Entschädigungspflicht gegenüber den Betreibern bei sofortigem Abschalten der Reaktoren hinweist.
Das Zaudern beim Ausstieg – das ist für die Atomgegner der grüne Sündenfall, die 30 Jahre Restlaufzeit das Symptom dafür. „Ihr werdet euch selber aus dem Parlament kegeln, wenn ihr so weitermacht“, bekommt Trittin zu hören: „Zwei Drittel derer, die euch immer gewählt haben, sind doch inzwischen angewidert von eurer Politik.“
Trittin und der Kieler Energieminister Claus Möller (SPD), der mit auf dem Podium sitzt, verweisen darauf, dass eine geringere Restlaufzeit als 25 Jahre vor dem Bundesverfassungsgericht wahrscheinlich durchfallen würde. „Unglaubwürdig“, kommt es aus dem Publikum zurück. Der Hamburger Rechtsanwalt Ulrich Wollenteit, der als Jurist für den Ausstieg kämpft, kommentiert: „Die 30-Jahres-Frist ist eine vollkommen unnötige Konzession an die Energiewirtschaft.“
Trittin reitet auf den rechtlichen Bedingungen herum: „Wenn ihr ein sofortiges Abschalten wollt, verlangt ihr von der Bundesregierung, gegen geltende Gesetze zu verstoßen.“ Es führe kein Weg daran vorbei, den Ausstieg nur über die Befristung der Betriebsgenehmigungen zu versuchen.
Denn eine Verfassungsänderung, die den sofortigen Ausstieg ermöglichen würde, ist für den Minister nicht drin: Dazu werden Zweidrittel-Mehrheiten benötigt. „Dazu braucht man den Stoiber. Und Stoiber zu einer Verfassungsänderung pro Ausstieg zu bewegen, ist ungefähr so erfolgversprechend wie ein Multi-Kulti-Gesetz mit der NPD.“ Wenigstens einen Lacher landet er damit.
Einmal bekommt die geprügelte Politik denn doch noch Beifall von allen, als Möller sagt: „Der beste Katastrophenschutz gegen einen Atom-Gau ist das Abschalten, so schnell wie möglich“.
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