: Der Krieg in Tschetschenien ist noch nicht zu Ende
Schon einmal hissten die Russen ihre Fahne in Grosny – und verloren doch
Berlin (taz) – Die Entscheidungsschlacht um die tschetschenische Hauptstadt Grosny könnte jetzt geschlagen sein. Weihnachten vergangenen Jahres hatte die Offensive begonnen und war von Moskau als Unternehmen weniger Tage angekündigt worden. Doch selbst wenn russische Truppen jetzt die Kontrolle über Grosny übernehmen sollten: Für den weiteren Verlauf des Krieges in Tschetschenien heißt das erst einmal noch gar nichts.
Bereits am 19. Januar 1995 und damit mehr als anderthalb Jahre vor dem Friedensschluss, den der Ex-General und damalige Chef des Sicherheitsrates, Alexander Lebed, mit der tschetschenischen Führung aushandeln sollte, hissten die Russen die Trikolore auf den Resten des völlig zerbombten Präsidentenpalastes in Grosny.
Dem vorausgegangen waren bereits zwei Attacken größeren Ausmaßes auf Grosny: Ein Eroberungsversuch am 26. November 1994 wurde noch vor dem Beginn der Großoffensive auf Tschetschenien zurückgeschlagen und 20 russische Soldaten gefangen genommen. Eine Neuauflage erfolgte knapp fünf Wochen später, als hunderte von Panzern in Grosny einrollten. Die anschließenden blutigen Kämpfe endeten für die Russen mit einem militärischen und menschlichen Desaster. Mehrere hundert Soldaten wurden bei dem Versuch getötet, den Bahnhof einzunehmen. Insgesamt bezahlten diesen Vorstoß 2.000 Soldaten mit ihrem Leben.
Auch wer da geglaubt hatte, die Mitte Januar 1995 im Zentrum Grosnys gehisste russische Fahne kündige ein baldiges Ende des Krieges an, wurde bald eines Besseren belehrt. Damals hatten russische Truppen zahlreiche wichtige Gebäude und Plätze in der Hauptstadt unter Kontrolle. Die Gefechte dauerten an und nahmen an Intensität zu. Obwohl mangelhaft ausgerüstet und trotz hoher Verluste gelang es den tschetschenischen Kämpfern nicht zuletzt wegen ihrer Guerilla-Taktik immer wieder, den russischen Truppen empfindliche Niederlagen beizubringen. Im Mai desselben Jahres musste die russische Militärführung einräumen, trotz Einnahme der wichtigsten Städte erst zwei Drittel der Kaukasusrepublik zu kontrollieren.
Der erste Kauskasuskrieg endete mit dem Friedensvertrag vom August 1996. Darin wurde die Klärung der Statusfrage auf ein Datum nach der Jahrtausendwende verschoben und konnte so nur notdürftig überdecken, dass sich Tschetschenien eine De-facto-Unabhängigkeit erkämpft hatte.
Auch jetzt, nach monatelangen Bombardements, kontrollieren die Russen nach eigenen Angaben erst 40 Prozent des tschetschenischen Territoriums. Schon haben die Kämpfer eine Wiederaufnahme des Guerillakrieges angekündigt, wofür sich der schwer zugängliche, gebirgige Süden der Republik als Basis geradezu anbietet. Derzeit spricht einiges dafür, dass sich das Szenario des ersten Krieges in weiten Teilen wiederholen könnte.
Barbara Oertel
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