: Kreuzberg aus globaler Sicht
Die Projektgruppe „claravista“ will mit ihren nächtlichen Diaprojektionen an der Oranien- Ecke Manteuffelstraße für Durchblick sorgen ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova
Irgendwo im Hinterkopf tuckert es. Leise und beständig. Manchmal springt es auf den Tellerrand, wenn abends die Nachrichten laufen, dass einem der Appetit vergeht. „Das Elend dieser Welt jeden Tag in unseren Wohnzimmern kotzt uns an. Wir wollen es nicht mehr sehen.“ Doch: „Sind wir wirklich nicht mehr aufnahmefähig?“ Nein, einer geht noch rein.
Das meinen drei Männer, die keinen Bock mehr haben auf „den dritten ARD-Brennpunkt in Folge zum Anstieg des Moselhochwassers“ oder langweilige Pamphlete, die die Welt erklären. Dem Schlosser Jürgen Schiedek (43), dem Fotografen Tobias Buddensieg (44) und dem Computerfachmann Marcel Naranjo Lederich (36) steht der Sinn nach einer klaren Sicht „auf die kleinen, aber wesentlichen Dinge, die menschliches Zusammenleben erträglich machen“, und „auf die Zukunft für Menschen und Utopien.“ Deshalb nennen sie sich „claravista“ und setzen ihre Themen bunt und knackig um: Hunger in der Welt, Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Rassismus, Umwelt.
Sie projizieren Dias auf eine 40 Quadratmeter große Fläche an einer Hauswand an der Oranien- Ecke Manteuffelstraße. Jede Nacht leuchtet ein anderes Motiv, manchmal verbunden mit einem Spruch, in der Kreuzberger Nacht. „Gisela aus Friedrichshain fertig für ein Stellmichein“, „Alles dreht sich, alles bewegt sich. Nur Helmut bleibt sitzen“ oder Jörg Haider als „Ausländer des Monats“.
Es ist kein Zufall, dass sich die Projektgruppe diese Ecke ausgesucht hat. Anfang der 80er-Jahre, als der Häuserkampf tobte, gab es dort schon mal Projektionen. Die jetzige Leinwand überdeckt die alte. Geblieben ist auch die brachliegende Fläche auf dem Eckgrundstück. Jürgen Schiedek hat sich nach zehn Jahren als Schweißer in Afrika für ein halbes Jahr wieder dort eingemietet, wo er schon einmal wohnte. In seiner Wohnung steht der Diaprojektor. Mehr oder weniger unverändert ist auch die Situation vieler Kreuzberger. „Einem Großteil der Leute geht es schlecht“, so Schiedek, „aber global gesehen geht es ihnen gut.“
Zum letzten Mal hat die Ecke mit einem Polizeieinsatz von sich reden gemacht – wegen der Brandmauer schräg gegenüber der Diawand. Im August 1999 rückte die Polizei an, um die Konterfeis von Fischer, Clinton, Albright, Scharping, Schröder und Milošević als „Kriegsverbrecher“ zu übermalen. Nach Ansicht der Beamten erfüllte das den Straftatbestand der Beleidigung. Ein anderer Fall war zu Gunsten der Wandmaler ausgegangen. Als sie 1997 den CDU-Fraktionsvorsitzenden Landowsky neben Goebbels und Strauß malten und die Polizei das Bild mit Brettern vernagelte, entschieden die Verwaltungsrichter für die freie Meinungsäußerung.
Seit dem letzten Polizeieinsatz ziert die Wand nur ein Gemälde mit Szenen aus der Geschichte Lateinamerikas, das bereits seit anderthalb Jahren dort hängt. Dass noch kein neues entstanden ist, liegt an dem noch laufenden Verfahren wegen des „Kriegsverbrecher“-Bildes. „Deshalb sind uns die Hände gebunden“, so ein Aktivist. Konkurrenz zu „claravista“ gibt es nicht. „Wir arbeiten antiquiert mit Kleister und Farbe, die anderen sind bunt und schnell.“ Seine Bitte an „claravista“, ein Dia von Kohl und Schily als „Mörder“ zu projizieren, wurde abgelehnt. „So was machen wir nicht“, stellt Jürgen Schiedek klar. Schließlich wollen er und seine Freunde kein vorzeitiges Aus ihres Projekts, das sie gerne ausbauen würden. „Kleine Flash-Animationen wären nicht schlecht“, so Schiedek. Doch dazu bräuchten sie etwa 20.000 Mark. So viel kostet ein Videoprojektor. Schiedek hofft, dass sich nach Gesprächen mit dem Vorstand der „Genossenschaft Luisenstadt“, die seit 1986 eine Selbstverwaltung der Häuser garantiert, zumindest bald etwas auf der brachliegenden Fläche tut. Dann könnten im Sommer, wenn es für Dias zu spät dunkel wird, Multimedia-Aktionen stattfinden. Bis es so weit ist, werden sie weiterhin Bilder in den Computer scannen und vom Bildschirm abfotografieren. Realistischer scheint hingegen ihr Vorhaben, ihr Projekt auf Gegenden auszuweiten, in denen es den Menschen „subjektiv und objektiv gut geht“. Denn: „Die klare Sicht auf die kleinen Freuden des Lebens soll nicht vernebelt werden.“
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