: „Dieser Aufschwung wird nicht ewig sein“
■ Neue Ökonomie: Die angesagte Theorie vom krisenfreien Kapitalismus ist falsch, sagt Hubert Strauß vom Kieler Institut für Weltwirtschaft
taz: Nach zehn Jahren Aufschwung in den USA haben Ökonomen dort die „neue Ökonomie“ ausgerufen – eine Wirtschaft angeblich ohne Krisen. Nun nimmt auch in Deutschland das Wachstum zu. Die Aktienkurse steigen, jede Menge Software- und Internetfirmen werden gegründet. Beginnt jetzt das goldene Zeitalter der Marktwirtschaft?
Hubert Strauß: Ein dauerhaftes goldenes Zeitalter wird es nicht geben. Selbst in den USA, wo die Theorie der New Economy erfunden wurde, ist die Gefahr des Abschwungs nicht für immer gebannt. Es gehört gewissermaßen zu den stilisierten Fakten einer langen Wohlstandsphase, dass man die Krise für tot erklärt.
Die Inflation, so hören wir, sei abgeschafft. Während der Wert des Geldes ziemlich stabil ist, steigen aber die Preise für Aktien ins Uferlose. Eine Gefahr?
Rapide steigende Aktienkurse können irgendwann wieder zur Inflation beim Geld führen. Weil sich die Leute reicher fühlen, geben sie mehr aus, wodurch die Preise angeheizt werden. Außerdem birgt natürlich jede Überbewertung am Aktienmarkt die Gefahr eines Kurssturzes. Die Blase kann platzen – es ist aber schwer vorauszusagen, ob und wann. Klar ist aber zurzeit, dass das Kurs-Gewinn-Verhältnis – die Relation zwischen dem Aktienkurs eines Unternehmens und seinem Gewinn – für viele Firmen den historischen Rahmen sprengt.
Hat der Boom an den Aktienmärkten etwas mit einer „neuen Ökonomie“ zu tun, in der die alten Gesetze von Aufschwung und Krise nicht mehr gelten?
Da ist sehr viel Euphorie dabei. Wenn zur neuen Ökonomie gehört, dass man den Konjunkturzyklus für abgeschafft hält, dann wird auch die Gefahr einer Rezession übersehen. Angesichts des Optimismus könnten die Investoren die Tendenz entwickeln, die Gewinne der vergangenen Jahre in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Sie würden dann bei Investitionen auf Einnahmeüberschüsse setzen, die sie später nicht mehr erwirtschaften. Möglicherweise können sie ihre Kredite nicht bedienen. Schnell steigende Kurse erzeugen also mitunter falsche Erwartungen, die geradewegs in die nächste Rezession münden.
Die Verfechter der „neuen Ökonomie“ leisten der Krise Vorschub, indem sie sie negieren?
Je stärker das Risiko aus den Augen gerät, desto eher steigen die Börsenkurse. Man sollte nicht die Fehler der 60er-Jahre wiederholen. Schon damals führten Ökonomen in den USA und Europa eine lange Diskussion darüber, ob der Konjunkturzyklus für immer erledigt sei.
Eine ähnliche Situation wie heute?
Damals herrschte ebenfalls ein langer Aufschwung. Dann wurde 1967 die erste große Wachstumskrise nach dem Zweiten Weltkrieg mit beträchtlicher Bestürzung aufgenommen. Die Erfahrung mit Rezessionen ist, dass man sie schwer vorhersagen kann. Tatsächlich wurden sie in der Vergangenheit auch häufig nicht prognostiziert.
Gibt es denn nun in den USA eine „neue Ökonomie“ oder nicht?
Man muss einfach sehen, dass die Wirtschaft dort über einen langen Zeitraum schneller wächst als früher. Jährlich werden mehr Menschen in den Arbeitsmarkt eingereiht als noch vor zehn Jahren. Das hat mit der höheren Zuwanderung zu tun, vor allem aber mit dem Bedarf an Arbeitskräften. Auch die Arbeitsproduktivität, also die Produktion pro Beschäftigten und Stunde, stieg in den vergangenen fünf Jahren stärker als zuvor. Das ist möglicherweise das Erstaunliche. Eigentlich müsste die Produktivität wieder sinken, wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist, weil nicht mehr genug qualifizierte Beschäftigte zur Verfügung stehen. Dazu ist es aber in den USA bislang nicht gekommen, weil im Zuge des Investitionsbooms viele Arbeitsplätze mit mehr Kapital ausgestattet wurden, besonders in Form hochmoderner Informations- und Kommunikationstechnologie. Das stärkt die Produktivität. Hinzu kommt natürlich die schnelle Verbreitung neuer Technologien wie des Internets und des elektronischen Handels.
Jetzt sagen viele Leute, die USA hätten nicht nur eine außergewöhnlich gute Konjunktur, sondern die Gesetze der Wirtschaft änderten sich grundsätzlich. Was ist davon zu halten?
Dass sich die ökonomischen Regeln ändern, sehe ich nicht. Man sollte sich eher die Politik anschauen, die den Aufschwung in den USA möglich gemacht hat. Unter Präsident Reagan wurden jede Menge Regelungen zum Beispiel für den Flugverkehr und das Bankenwesen aufgehoben und die monopolistische Telefonfirma AT&T in mehrere Betriebe zerlegt. Solche Maßnahmen erhöhten den Wettbewerbsdruck in der US-Wirtschaft und animierten die Unternehmen, sowohl die Kosten zu drücken als auch mehr auf Computer zu setzen. Dadurch stieg die Produktivität. Außerdem zogen die Reallöhne lange Zeit kaum an, worin der geringe Einfluss der Gewerkschaften und die hohe Mobilität auf dem US-Arbeitsmarkt zum Ausdruck kommen. Erwerbslose in den USA erhalten eine kürzere Zeit Arbeitslosengeld als in Europa, und die Unterstützung fällt im Verhältnis zum Lohn wesentlich niedriger aus als hier. Das zwingt die Beschäftigten, eher den Wohnort und die Branche zu wechseln oder auch vorübergehend Jobs anzunehmen, die schlechter bezahlt sind.
Wie lange kann der Aufschwung in den USA noch weitergehen?
Das lässt sich schwer sagen. Für mich steht fest, dass sich das Tempo des Aufschwungs durch Zinserhöhungen spätestens gegen Ende dieses Jahres verringert. Es sieht aber danach aus, als wenn die Produktivitätszuwächse noch einige Jahre höher sein könnten als früher: vielleicht zwei Prozent statt einem Prozent pro Jahr. Die Techniken der Telekommunikation werden derart schnell erneuert, dass Beschäftigte von Internetfirmen mitunter schon nach einem halben Jahr viel größere Datenmengen bewältigen können. Das atemberaubende Tempo der ständigen Modernisierung ist ein neues Phänomen. Dennoch hat man in der Vergangenheit immer wieder beobachtet, dass der technische Fortschritt in Wellen erfolgt. Auch die gegenwärtige Welle wird nicht ewig sein.
Angeblich hält die neue Ökonomie nun auch in Deutschland Einzug. Kommt der Aufschwung?
Der Aufschwung ist bereits da. Damit aber hier richtig die Post abgeht, muss die Politik die Steuerbelastung der Unternehmen reduzieren und die Wettbewerbsintensität innerhalb der Wirtschaft verschärfen. Zum Beispiel durch Privatisierung von Staatsunternehmen und Liberalisierung der Märkte müssen Anreize geschaffen werden, damit die Betriebe schneller neue Techniken einsetzen und dadurch ihre Kosten senken. Außerdem setzt ein Aufschwung wie in den USA eine viel stärkere Flexibilisierung der hiesigen Arbeitsverhältnisse voraus.
Der Boom in den USA ist nicht denkbar ohne den hohen Druck auf die Beschäftigten. Flexibilisierung bedeutet auch weniger Kündigungsschutz. Noch nie haben in den USA so viele Leute ihren Job verloren wie zurzeit.
Aber auch noch nie haben so viele so schnell einen neuen gefunden. Die Leute müssen sich mehr anstrengen und mehr beeilen. Und weniger Kündigungsschutz führt bei den Unternehmen dazu, dass sie eher Leute einstellen, wenn sie kurzfristig gebraucht werden. In Deutschland dagegen suchen Betriebe neue Beschäftigte erst bei langfristigem Bedarf. Außerdem muss man fragen, ab welchem Zeitpunkt die Löhne steigen sollen und dürfen.
Interview: Hannes Koch
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