: „Der See hat sein Opfer“
Interview BETTINA GAUSund JENS KÖNIG
taz: Herr Schäuble, in einer Woche sind Sie nicht mehr CDU-Vorsitzender. Wie geht es Ihnen? Wolfgang Schäuble: Der Frühling kommt. Es geht mir gut.
Auch privat?
Ich habe in meiner Familie immer viel Freude.
Für die Familie werden Sie jetzt mehr Zeit haben .
Wenn der Parteitag vorbei ist, werde ich versuchen, ein bisschen Abstand zu gewinnen, und darauf freue ich mich. Ich habe darauf ein Recht und mindestens mir selbst gegenüber auch eine Pflicht. Ich brauche Zeit, in der ich Atem holen kann.
Helmut Kohl schreibt ein Buch. Sie auch?
Ja, über meine Zeit als Parteivorsitzender. Das schafft Ordnung im Kopf.
Nach der Ankündigung Ihres Rückzugs aus den Spitzenämtern haben Sie befreit gewirkt, aber irgendwie auch wehmütig. Trog dieser Eindruck?
Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, und sie hat wehgetan, sie tut heute noch weh, keine Frage. Alles andere wäre gelogen. Wahr ist auch, dass man erleichtert ist, wenn man eine Entscheidung trifft, von der man weiß, sie ist unausweichlich, gegen die man sich dann aber doch wehrt.
In den letzten Monaten war der Druck auf Sie besonders groß. Sind Sie froh, ihn los zu sein?
Ja, das trägt auch zur Erleichterung bei. Aber meine Entscheidung, nicht mehr für die Spitzenämter von Partei und Fraktion zu kandidieren, ist kein Akt des Davonlaufens.
Sondern?
Ein Ausdruck der Verantwortung, wie ich sie sehe.
Wenn der Parteitag Sie wählt, werden Sie weiter im CDU-Präsidium arbeiten. Wären Sie weggelaufen, wenn Sie nach fast 40 Jahren Politik gesagt hätten: Danke, liebe Leute, aber jetzt ist wirklich Schluss?
Ich bin gewählter Bundestagsabgeordneter, und ich finde nicht, dass man dann einfach sagen kann: Ich mach jetzt den Oskar.
Aber warum noch ein Amt in der Partei?
Die Frage, ob ich ins Präsidium gewählt werde, ist nicht die zentrale Frage des Essener Parteitags. Aber nachdem ich von Angela Merkel und anderen dringend dazu gebeten worden bin, habe ich mich bereit erklärt. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich sei verbittert oder beleidigt.
In einem Fernsehinterview haben Sie gerade mit ihren innerparteilichen Gegnern abgerechnet. In der CDU, sagen Sie, habe ein Kampf zur Vernichtung Ihrer Person stattgefunden. Sie sprechen außerdem von einer Intrige, die mit kriminellen Elementen durchsetzt gewesen sei. Das klingt, als seien Sie doch verbittert.
Ich möchte darauf hinweisen, dass das Interview im Februar geführt worden ist, also vor sechs Wochen. Inzwischen habe ich etwas mehr Abstand.
Sie nehmen die Vorwürfe zurück?
Wenn man den Film anschaut, wird man sehen, dass Zitate, indem sie in der Presse verkürzt dargestellt oder aus dem Zusammenhang gerissen werden, ein anderes Gewicht erhalten. Von einer Intrige in der CDU habe ich nicht gesprochen.
Sie reden von Machtkampf und von einer ordentlichen Intrige.
Ja, aber nicht mit dem expliziten Hinweis auf die CDU. Ich möchte, dass man den Film als Ganzes ansieht und dann wertet.
Was wollten Sie denn ausdrücken?
Dass Dinge gezielt gegen mich instrumentalisiert worden sind, bis hin zu der subtil formulierten Unterstellung, ich hätte Geld in die eigene Tasche gesteckt. Reden wir doch mal nicht drum herum, sonst macht es ja keinen Sinn. Natürlich kann man fragen: Warum muss man Barspenden annehmen? Aus heutiger Sicht würde man das nicht mehr tun. Aber 1994 hat das kein Mensch irgendwie verwerflich gefunden.
Persönliche Bereicherung hat Ihnen niemand unterstellt. Es ging immer darum, dass Sie von von dem Waffenhändler Karl-Heinz Schreiber 100.000 Mark in bar angenommen haben.
Diese ganze Diskussion darüber war doch kein Zufall. Es hat mich schon gewundert, dass Herr Schreiber Helfershelfer auf dieser Seite des Atlantiks gefunden hat, bei Medien und offensichtlich auch anderswo.
Auch in Ihrer Partei?
Wenn aus einer Angelegenheit, die, so weit es mich betrifft, völlig harmlos ist, eine Geschichte gemacht wird, die wochenlang größere Bedeutung hat als der ganze Rest der Finanzaffäre, dann ist das kein Selbstläufer.
Wie war es denn aus Ihrer Sicht?
Tag für Tag kriegst du neue Dinge auf den Tisch und denkst, das kann doch wohl alles nicht wahr sein. Am Schluss wird dann noch die Behauptung aufgestellt, der Mann sei gar nicht bei mir gewesen, nachdem er wochenlang im öffentlich-rechtlichen Fernsehen jeden zweiten Tag live gezeigt wurde und immer wieder andere Versionen erzählt hat. Und dann heißt es auf einmal, hier stehe Aussage gegen Aussage. Jetzt erklären Sie mir das mal. Aber das können Sie nicht. Niemand kann das. Ich hoffe, irgendwann kommt die Wahrheit ans Licht.
Welches Motiv steckt Ihrer Meinung hinter dieser Intrige?
Das weiß ich nicht. Darüber spekuliere ich auch nicht. Ich würde gern die Wahrheit wissen.
Werden Sie die Wahrheit selbst herauszufinden versuchen, wenn Sie nicht mehr Parteichef sind?
Ich fahre nicht nach Kanada.
Aber Sie haben ein Interesse an der Wahrheit, wie Sie sagen.
Ich bin kein Privatdetektiv. Außerdem hat die Öffentlichkeit das Interesse an der Geschichte offensichtlich verloren. Es gilt, frei nach Friedrich Schiller im „Wilhelm Tell“, die alte Regel: Der See rast und will ein Opfer. Er hat es. Jetzt stehen alle da und fragen: War was? Das gehört zu den Gesetzmäßigkeiten von Politik.
In dem angesprochenen Interview erheben Sie auch gegen den früheren Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden schwere Vorwürfe. Auf die Frage, ob Sie sich von Helmut Kohl im Stich gelassen fühlen, antworten Sie: „Im Stich gelassen wäre viel zu wenig.“ Was wäre denn eine angemessene Beschreibung?
Ich will nicht immer wieder über meine persönliche Beziehung zu Helmut Kohl reden.
Gehört das zu Ihrem Verständnis von Loyalität?
Ich habe mein Verständnis von Loyalität zur Genüge beschrieben. Auch eine Partei braucht, bei aller innerparteilichen Demokratie, Führung. Anders ist sie nicht handlungsfähig. Wenn die Partei demokratisch geführt werden soll, ist die Führung auf Loyalität angewiesen. Die Entscheidungen der Gremien zu Sachthemen wie zu Personen müssen also Unterstützung finden. Dies habe ich gelebt.
Und sich persönlich zurückgenommen.
Ja, ich habe es immer akzeptiert, dass man aus Loyalität notfalls auch sich selbst zurücknehmen muss. Der Gegensatz zur Loyalität in der Führung einer Partei ist übrigens Abhängigkeit, Seilschaft, Druck oder Intrige. Deshalb werbe ich sehr für Loyalität.
Sie selbst haben in Ihrer Zeit als Parteivorsitzender diese Loyalität nicht immer erfahren. Hat Sie das überrascht?
Ja, schon.
Halten Sie vor dem Hintergrund dessen, was Sie heute wissen, den Preis für Ihre eigene Loyalität gegenüber Helmut Kohl für zu hoch?
Nein. Es waren ja erfolgreiche Jahre. Es wird nicht alles durch die Erkenntnisse der letzten Monate zerstört. Die geschichtliche Wahrnehmung wird eine angemessenere sein, als das jetzt im Augenblick der Fall ist.
Ihr Bruder Thomas hat in einem Interview gesagt, er verabscheue Helmut Kohl, und er hat hinzugefügt, dass er für die ganze Familie spreche. Stimmt das?
Mein Bruder hat, angesprochen auf diese Äußerung, erklärt, es sei alles gesagt, und einmal sei genug.
Helmut Kohl ist gerade 70 Jahre alt geworden, aber kaum einer hat mit ihm gefeiert. Haben Sie Mitleid mit Kohl?
Ich möchte nicht ständig meine persönlichen Empfindungenin der Öffentlichkeit ausbreiten.
Aber Kohl hat öffentlich gesagt, er möchte sich gerne mit Ihnen versöhnen.
Ich kann nicht erkennen, was ich ihm Unrechtes getan hätte.
Herr Schäuble, Ihre Vergangenheit lässt Sie auch auf anderem Gebiet nicht los. Sie sollen 1990 als damaliger Innenminister für die gezielte Vernichtung von Stasi-Abhörprotokollen verantwortlich gewesen sein, die sich mit CDU-Politikern befassten. Trifft das zu?
Ich habe keine genaue Erinnerung daran. Meine Mitarbeiter haben versucht, den Sachverhalt aufzuklären. Soweit ich weiß, hat 1990 die Illustrierte Quick angeblich brisante Informationen aus Stasi-Abhörprotokollen veröffentlicht. Ich habe versucht, das zu verhindern, weil ich es für rechtswidrig hielt. Die Bundesregierung hat damals einen Beschluss gefasst, solche Informationen, die die Stasi durch Abhören gewonnen hatte, zu vernichten. Das ist, nach Abstimmung mit den Fraktionen aller anderen Parteien, dann auch geschehen. Wissen Sie, 1990 war so viel los. Ich habe mich damals mit vielen anderen Fragen mehr beschäftigt.
Ihr Erinnerungsvermögen ist das eine, die politische Bewertung das andere. Warum ist es in Ordnung, Stasi-Material gegen ehemalige DDR-Bürger einzusetzen, aber nicht in Ordnung, es bei westdeutschen Politikern zu verwenden?
Wenn ich mich recht erinnere, war im Frühsommer 1990 die Haltung der Bundesregierung noch eine ganz andere als später dann. Wir hatten eher die Einstellung, die Stasi-Akten unter Verschluss zu halten. Dass die Stasi alles abgehört hat, konnte man eigentlich wissen, und dass man damit großen Schaden anrichten kann, ebenfalls. Aber dann beschloss die DDR-Volkskammer, die Stasi-Akten unter bestimmten Bedingungen zur Einsicht freizugeben. Also haben wir bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag gesagt: Wenn die frei gewählte Volksvertretung der DDR das so will, dann machen wir das. Da war nicht so entscheidend, was wir im Westen wollten.
Aus diesen Telefonprotokollen geht hervor, dass die Stasi schon frühzeitig Informationen über illegale Finanzpraktiken in der CDU hatte. Der Verfassungsschutz war später im Besitz dieser Akten. Sie als Innenminister waren für den Verfassungsschutz zuständig. Sie haben nicht gewusst, was in den Akten steht?
Nein, das ich kann Ihnen und jedem Gericht der Welt, jedem Untersuchungsausschuss versichern: Als Innenminister hatte ich davon keine Kenntnis. Ich wollte das auch bewusst nicht, ich habe meine Neugier gezügelt.
Sie waren anderthalb Jahre CDU-Chef. Schmerzt es Sie, als Übergangsvorsitzender bezeichnet zu werden?
Es kommt darauf an, wie die Bezeichnung gemeint ist. Nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 hatte ich als CDU-Vorsitzender die Aufgabe, die Partei wieder mehrheitsfähig zu machen und insofern auch den Übergang für die kommende Generation von CDU-Politikern vorzubereiten. Ich dachte natürlich nicht, dass der Übergang so kurz sein würde. Ich glaube trotzdem, dass er gut gelungen ist. In diesem Sinne habe ich nichts gegen die Bezeichnung Übergangsvorsitzender.
Und wenn damit gemeint ist, Ihre Amtszeit sei nur eine unwichtige Episode gewesen?
Dann wird das dem, was geleistet worden ist, nach meiner Überzeugung nicht gerecht.
Mittlerweile entsteht der Eindruck, die CDU betrachte die Spendenaffäre als ausgestanden. Ist sie das?
Als CDU haben wir getan, was wir zur Aufklärung tun konnten.
Die einen mehr, die anderen weniger.
Als Partei insgesamt haben wir die Affäre aufgeklärt. Jetzt müssen wir uns mit den Konsequenzen auseinandersetzen und sicherstellen, dass sich so etwas in Zukunft nicht wiederholen kann. Eine von uns eingesetzte Kommission mit Roman Herzog, Paul Tietmeyer und dem Verfassungsrichter Paul Kirchhoff hat dazu Vorschläge unterbreitet, über die wir auf dem Parteitag abstimmen werden. In meiner Amtszeit als Parteivorsitzender hat es übrigens keinerlei rechtswidrigen Umgang mit Spenden gegeben. Das sollte man vielleicht auch einmal festhalten.
Und die politische Bewertung der Affäre?
Die ist weiter zu diskutieren. Aber, wie gesagt, da scheint Schiller Recht zu haben: Der See hat sein Opfer.
Helmut Kohl ist der Hauptverantwortliche, aber nicht der Alleinverantwortliche für die illegalen Finanzpraktiken in der CDU. Welche Fehler hat die Partei insgesamt gemacht?
Darüber ist ja ausführlich gesprochen worden. Wir hatten in dieser Angelegenheit ein Führungssystem, in dem es nur wenige Leute gab, die informiert waren. Das ganze System war ja darauf angelegt, dass niemand von den Finanzgeschäften wissen sollte. Wir müssen einfach dafür sorgen, unser Finanzsystem transparent zu machen.
Norbert Blüm hat selbstkritisch eingeräumt, dass alle in den Führungsgremien der Partei zu wenig nachgefragt haben.
Das wird so sein, ja. Der Bundesvorstand hat festgestellt, dass in der CDU gegen die Prinzipien der innerparteilichen Demokratie verstoßen worden ist. Also wird es schon so sein, dass wir vieles auch zu leicht hingenommen haben. Von Mitverantwortung kann sich keiner freisprechen. Das ist ja auch der Grund für meinen Rückzug. Ich habe gesagt: Wenn diese 16 Jahre Regierungsverantwortung sich vorübergehend so sehr selbst zerstören, dann werde ich, der ich in den 16 Jahren mehr Verantwortung getragen habe und mehr Stütze war als andere, nicht der Richtige sein, um die CDU aus der schwersten Krise ihrer Geschichte herauszuführen.
Wann genau war Ihnen eigentlich klar, dass Sie nicht mehr der richtige Parteichef sind?
Das war ein Entscheidungsprozess, der sich über längere Zeit hinzog. Aber schon in den Weihnachtsferien bin ich auf ein Zitat aus Goethes „Torquato Tasso“ gestoßen, das ich mir für den Fall der Fälle zurechtgelegt habe.
Was schrieb Goethe?
So selten ist es, dass die Menschen finden, / Was ihnen doch bestimmt gewesen schien, / So selten, dass sie das erhalten, was / Auch einmal die beglückte Hand ergriff!
Wenn die CDU ihre Krise als Chance ergreift, dann ist sie danach die modernste Partei, behaupten Sie. Als Chance wozu?
Offener zu sein, kontroverser zu diskutieren. Diese Chance haben wir bis jetzt in einigen Fragen schon genutzt.
In welchen?
Wir haben unsere eigenen Fehler und Verantwortlichkeiten aufgeklärt, auch dort, wo’s wehtut. Wir haben die Debatte darüber mit großer Offenheit auf unseren Regionalkonferenzen geführt. In der Frage, wer die Partei künftig führen soll, gab es diesmal keine Strippenzieher.
Die Regionalkonferenzen wurden als Mittel im CDU-Machtkampf eingesetzt.
Nein, der Sinn dieser Konferenzen war, dass jedes Argument gehört wird, dass ein öffentlicher Prozess stattfindet und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden. Manche meinen, der nächste Schritt müsse sein, auf derartigen Konferenzen auch abstimmen zu lassen. Das halte ich für falsch.
Warum?
Wenn eine solche Konferenz Entscheidungen treffen will, dann muss sie schon wieder repräsentativ sein, sonst ist sie jeder Manipulation zugänglich. Ich glaube, dass unsere jetzige Mischung aus Diskussion und Entscheidung die richtige war.
Die neue Diskussionskultur der CDU in allen Ehren – aber damit wird man nicht gleich zur modernsten Partei. Offene Debatten sind doch das Mindeste, was man als Bürger von den Parteien erwarten kann.
Das ist richtig. Das, was wir bis jetzt geleistet haben, müssen wir auch in den politischen Debatten über Sachfragen zustande bringen. Da ist es noch komplizierter.
Wie sieht denn der programmatische Neuanfang der CDU aus?
Sie werden von mir nicht ernsthaft erwarten können, dass ich als scheidender CDU-Vorsitzender der neuen Führungsmannschaft in einem Interview sage, wo es programmatisch langzugehen hat. Das ist das, was ich vorhin mit Loyalität beschrieben habe.
Bei Debatten wie „Kinder statt Inder“ hat man nicht den Eindruck, als wüsste die CDU, wohin die Reise geht.
Jetzt verstoßen Sie aber gegen die Prinzipien einer modernen Partei. Es darf doch wohl noch Diskussionen und unterschiedliche Meinungen geben. Ich wünsche mir, dass man unterschiedliche Auffassungen nicht gleich immer als parteischädigend ansieht.
Das haben wir nicht getan.
Es ist wirklich nicht einfach: Alle, auch die Medien, verlangen ständig mehr Offenheit in innerparteilichen Debatten. Belohnt wird in Wahrheit aber immer die Geschlossenheit. Jeder demoskopische Befund sagt: Nichts ist für eine Partei besser, als geschlossen zu wirken. Nichts ist schädlicher, als wenn der Eindruck von Uneinigkeit entsteht. Aber wenn es nun mal unterschiedliche Ansichten gibt, sollte man daraus nicht gleich einen Streit machen oder behaupten, die Partei wüsste nicht, was sie will.
Wie oft haben Sie sich in den vergangene Tagen die Haare gerauft, beispielsweise als Friedrich Merz, Ihr Nachfolger als Fraktionsvorsitzender, über eine Besteuerung von Renten gesprochen hat?
Ich habe nicht die Absicht, mich in den nächsten Wochen und Monaten ständig befragen zu lassen, was ich von diesem oder jenem Vorgehen meiner Nachfolger halte. Die brauchen meine Zensuren nicht. Zensuren von Vorgängern kann man nicht ertragen. Im Übrigen muss jeder, wenn er neu in einem Amt ist, auch das Recht haben, die Dinge mal ein bisschen anzustoßen. Die Art der Reaktion auf Friedrich Merz, dass gleich wieder über ihn hergefallen worden ist, akzeptiere ich nicht.
Angela Merkel, die neue CDU-Vorsitzende, ist jung, eine Frau und aus dem Osten. Wie wird sich die Partei mit ihr an der Spitze verändern?
Ich weiß gar nicht, wieso alle immer so betonen, dass Frau Merkel eine Frau und aus dem Osten ist. Sie wird eine gute Parteivorsitzende sein, das ist wichtig. Ansonsten gilt der Satz, den Angela Merkel selbst sagt: Im Grundgesetz steht, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind.
Sie können so tun, als sei eine Frau aus Ostdeutschland an der Spitze der CDU normal. Aber sie wissen so gut wie wir, dass das nicht stimmt.
Ich wünsche mir aber, dass das normal wird. Angela Merkel hat eine andere Art von Kommunikation als die meisten, die man bisher so kennt im Politikbetrieb. Aber das macht sie nicht gleich zu einem anderen Wesen.
Kürzlich haben Sie gesagt, Parteiarbeit sei Sisyphusarbeit, und Sie haben Sisyphus in dem Zusammenhang als glücklichen Menschen bezeichnet. Was haben Sie damit gemeint?
Dass das Wirken des Menschen immer nur ein vorläufiges und unvollkommenes ist und dass das Streben wichtiger ist als das Ziel. Goethe hat gesagt, wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Sisyphus ordnet sich in dieses Grundverständnis vom Menschen und von menschlicher Ordnung ein.
Aber bei Sisyphus tut sich letzten Endes doch gar nichts. Er rollt den Stein immer wieder nur bergauf.
Eben, Sisyphus bemüht sich. Er ist keiner, der immerfort scheitert. In diesem Bemühen liegt ein Stück Erfüllung. Bei uns in der CDU ist der Stein gerade ein Stück zurückgerollt, jetzt rollen wir ihn wieder den Berg hinauf.
Sind Sie also glücklich oder zufrieden, Herr Schäuble?
Man ist nie nur glücklich. Aber ein zufriedener Mensch verkraftet die Schwankungen zwischen Glück und Unglück besser.
Haben Sie mit Blick auf die Zäsur in Ihrem Leben, die Querschnittslähmung, heute ein größeres Talent zur Zufriedenheit als früher?
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Aber so, wie ich es jetzt zu definieren versucht habe, muss ich die Frage bejahen. Ich habe ein größeres Maß an Gelassenheit als früher, weil ich die Wechselfälle, aus denen das Leben besteht, viel besser begreife.
Zitate:
SCHÄUBLE ÜBER KOHL:„Ich habe ihm nichts Unrechtes getan.“
SCHÄUBLE ÜBER SEIN ENDE:„Die Alternative zur Loyalität ist Intrige.“
SCHÄUBLE ÜBER SISYPHUS:„Sisyphus ist keiner, der immer scheitert.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen