: Gepudertes Formbewusstsein
Glitter auf riesigen Brüsten: Im Hotel Mercure fand das Casting für die Wahl der „Miss Molly 2000“ statt
Serap und Füsun sitzen am Tisch hinten rechts und warten darauf, dass es endlich losgeht. Serap Yilmaz ist eine schöne Frau. Ihre Freundin Füsun Kesbiç auch. Nur ist Füsun im Gegensatz zu Serap leider nicht übergewichtig, sonst könnte sie nämlich heute Abend beim Casting zur „Miss Molly“ mitmachen.
Seit sieben Uhr laufen im ersten Stock des Hotel Mercure in Neukölln junge Frauen ein: dicke Frauen, sehr dicke Frauen, noch dickere Frauen. Gepflegt, gedauerwellt und aufgebrezelt. Lisl Muggelberg, „Miss Molly 1998“, Hände aus Gold und Lack, begrüßt die Neuankommenden, im Raum nebenan findet ein Diavortrag statt.
Im Saal spielt Musik aus einer Zeit, in der die Clubs noch Dissen hießen, die Bühne ist mit Weihnachtsbeleuchtung umdampft, und zwischen den Frauen sitzen Männer in Cowboyhemd, mit Vokuhila-Haarfrisur und Strähnchen, mit gegeltem Haar und Oberlippenbart. Serap ist etwas aufgeregt, und Füsun hält ihr die Hand.
Das Casting hat Gitti Hinz von der Agentur „Mollywood“ bundesweit ausgeschrieben. Wegen der Osterferien, sagt sie, haben sich dieses Mal aber nur sehr wenige Frauen gemeldet. Es reicht gerade für die Gruppe der fünfzehn, aus denen die „Miss Molly“ dann gewählt wird. Gitti Hinz organisiert auch die Dicken-Disco, die alle vierzehn Tage in Wilmersdorf stattfindet, und von der sich viele Frauen kennen, die heute Abend für die Vorausscheidung gekommen sind.
Aber noch kann es nicht losgehen. Noch ist Zeit für Ereignisse. Das eine Ereignis ist zierlich, in schwarzen Strass gekleidet und um die fünfzig. Es trägt eine kleine Kappe auf den schwarz gefärbten Haaren und lüftet sie, indem es an den Tischen vorbeigeht. Das andere Ereignis ist ein Schiff mit hellrosa Haar und plastikblauen Augendeckeln, das sich im Flur Glitter auf die riesigen Brüste pudert. „Also, auch wenn ich selbst dick bin, manchmal vergeht mir echt der Appetit,“ sagt Serap.
Das Schiff setzt sich nach vorn zu drei 16-ährigen Jungs, die ganz allein gekommen sind. Endlich tritt Gitti Hinz ans Mikrofon. Sie bittet um Entschuldigung für die Verspätung. „Wissen Sie, im Nebenraum war ein Diavortrag“, sagt sie, „und wenn die Musik so laut ist, können die Leute nichts sehen.“ „Hören“, ruft ein Mann.
Fast alle Foto-Bewerbungen aus Westdeutschland mussten zurückgeschickt werden, sagt Gitti Hinz, nur eine junge Frau aus Recklinghausen sei für das Casting gecastet worden. Die vierköpfige Jury sitzt an einem kleinen Tisch vor der Bühne: eine Sängerin, eine Filialleiterin vom Penny, die Junggebliebene in Schwarz und ihr Bekannter. Und Frau Hinz am Mikro kündigt die Auflockerung ihrer Moderation durch Fragen und Bemerkungen an.
Serap wird als erste nach vorn gerufen und gefragt, ob sie auch einen Hund hat. „Ja“, sagt Serap mit großem Formbewusstsein, „und als ich den Gassi geführt habe, habe ich die Ausschreibung gesehen.“ Ja, sagt Frau Hinz: „Und jetzt bitte mal hin und her laufen vor der Jury.“ Serap dreht sich ein wenig und lacht.
„Ich bin gelernte Metzgerin,“ sagt Bettina, die nächste dicke Kandidatin. „Du gehst da auch so ein bisschen vorbei“, sagt Gitti Hinz und deutet in Richtung Jury. Bettina geht ein bisschen. Ihre übergewichtige Schwester kommt gleich danach: „Also, ich hab’s lieber, wenn man mich Conny nennt. Ich bin auch Fleischfachverkäuferin, auch bei Kaiser’s.“ „Keine Werbung“, ruft Serap von hinten. „Okay, Cornelia“, das war es schon“, sagt Gitti Hinz. Die Wahl zur „Miss Molly“ findet am 22. April im Hotel Estrel statt.
CHRISTIANE TEWINKEL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen