: Opas von ungekämmter Lässigkeit
Beim ersten Grand Prix des Jahrtausends räumten die Gebrüder Olsen ab. Ihr Rezept: grundehrlicher Dänen-Pop. Gegen die älteste Boygroup des Kontinents hatte Stefan Raab keine Chance. Und der klassische Schlager ist erst recht mausetot
aus Stockholm JAN FEDDERSEN
Sie waren die ganze Woche über auf den Partys die letzten, die die Bar verließen.Und morgens dann als Erste wieder am Frühstückstisch. Doch spätestens fünf Stunden vor ihrem Auftritt wurde man den Eindruck nicht los, dass Jörgen und Nils Olsen, der eine 50, der andere 46 Jahre alt, nicht mehr die Kondition haben, ihren Auftritt beim Grand Prix Eurovision frisch zu absolvieren.
Für die ältesten Teilnehmer der Veranstaltung war diese Lockerheit aber offenbar das Rezept, um etwas zu schaffen, was ihnen kein Wettbüro der Welt zugetraut hatte: Sie siegten mit selbstbewusster Ausstrahlung und großem Vorsprung vor der Russin Alsou und der lettischen Band Brainstorm und bescherten damit ihrem Land nach 1963 den zweiten Sieg beim europäischen Popwettbewerb.
Jörgen Olsen, der ältere der beiden Brüder, sagte morgens um halb drei in den Gängen der Globe-Arena: „Das ist der Höhepunkt unserer Karriere – weil wir ihn nicht mehr erwartet haben.“
Knapp 30 Jahre Bühnenerfahrung, Auftritte in Zirkuszelten, auf Countryfestivals, bei Sommertourneen und immer wieder im Fernsehen zahlten sich aus. Für ihren Song „Fly on the wings of love“ bekamen die Olsen-Brüder acht Höchstwertungen, und nicht nur von den skandinavischen Ländern, sondern unter anderem auch von Deutschland (das der Türkei diesmal nur zehn Zähler zukommen ließ).
Die Olsens, die in diesem Jahr auch den Poppreis der dänischen Bravo erhalten werden, hatten das, was Grand-Prix-Sieger eben haben müssen: vor allem anderen eine selbstvertraute Ausstrahlung. Gerührt, Jörgen Olsen gar mit Tränen in den Augen, nahmen sie die Bleikristallvase aus schwedischer Designwerkstatt entgegen. „Danke dem besten Publikum, das wir je hatten, danke den Zuschauern, danke Europa“, sagte er: Und es wirkte nicht einmal einstudiert.
„Smuk som en stjerneskud“ („Schön wie eine Sternschnuppe“), so das dänische Original, wird seit vier Wochen zwischen Kopenhagen und Esbjerg, Skagen und Rödby pausenlos auf allen Radiokanälen gedudelt.
Punkte aus der Nachbarschaft
Davon kann ein gewisser Stefan Raab nur träumen. Sein „Wadde hadde dudde da“ war selbst hierzulande nur für wenige Tage ein Hit – und hat zudem für heftige Kontroversen bei denen gesorgt, die mit Raab und seiner Art nicht warm werden. Der Kölner Entertainer erhielt in Stockholm Höchstwertungen ausschließlich aus Ländern, die ihn via Satellit oder Frequenznachbarschaft kannten: aus Österreich, der Schweiz und Spanien. Das deutet zumindest an, dass Raab als Produkt Zustimmung erhielt, nicht jedoch sein Lied.
Dort, wo Raab ein Kreti oder Pleti ist, ward seine Performance ignoriert. Nach der Show verzog sich der Geschmähte umgehend, die Party ließ er aus. Vermisst wurde er allerdings sowieso nur von den Kamerateams der privaten TV-Sender. Der fünfte Platz nagt (außerhalb öffentlicher Bekundungen) vermutlich als größtes anzunehmendes Unglück am Künstlerstolz: nicht Erster, nicht mal Letzter. Ein Rang am Rande des Mittelfelds aber hilft dem Aktienkurs seiner Firma nicht weiter.
Doch er wird ja wiederkommen. Wie Ralph Siegel, der Münchner Komponist, der für Deutschland ein Dutzend Grand-Prix-Lieder international in die Arenen hievte, lebt Raab vom Hunger auf Erfolg. Siegels Ära scheint am Ende – und jetzt wird Raab seinen Platz einnehmen. Wie Siegel ist Raab ein begnadeter Pophandwerker, und wie der Münchner wünscht er sich die Liebe des Publikums und nicht nur den Respekt. Er wird also weitermachen, bis er gar nicht mehr scheitert, weder als Komponist noch als Sänger.
Ein Weiteres zeigte der Abend in Stockholm: Der Grand Prix Eurovision hatte nichts mehr von der Anmutung früherer Jahrgänge: Aus einer Trash- und Schlagerveranstaltung wurde ein Event, das im Sinne der feinfühligen Popindustrie einen Seismographen für das abgibt, was Europa gerne auch außerhalb des jährlichen „Song Contest“ hören mag.
So herrscht im Publikum längst nicht mehr die Stimmung leicht liederhaftiger Honorigkeit in Frack und Tüll – wie in den Siebzigerjahren in Amsterdam, Edinburgh oder Luxemburg. Die Damen treten nur noch ausnahmsweise im langen Abendkleid auf, und wenn, wie die Französin Sofia Mestari in einem aus rot wallendem Stoff, wird dies von den Jurys unhonoriert gelassen. Und wo früher Haargebirge zur Schau standen, dominierte heuer beim Grand Prix ungekämmte Lässigkeit.
Und so landeten auf den ersten fünf Plätzen Songs, die so auch bei MTV ins Programm kommen könnten. Lettlands Boygroup Brainstorm landete auf dem dritten, Russlands Alsou gar auf dem zweiten Platz – beide hatten Lieder mit großem Appeal gerade für die jugendlichen Zuschauer. In diese Reihe passt lediglich Israel ganz und gar nicht: Ihr Solidaritätslied für die Sache Syriens auf den Golanhöhen brachte der Gruppe Pingpong ganze sieben Zähler, sechs Punkte aus Frankreich und einen einzigen aus Makedonien. Vielleicht hatte ihre schlichte Botschaft unter dem Titel „Sa’me’akh“ („Glücklich“) auch nur zu viel guten politischen Willen und zu viel mittelmäßige Qualität.
Herzschmerz hat ausgedient
Jedenfalls: Die Zeiten des candlelighthaften Friedensbewegungstums sind vorbei. Irlands Eamonn Toal belegte mit „Millennium of Love“ einen für ihn deprimierenden sechsten Platz. Und das deutsche Fazit: Der klassische Schlager ist spätestens seit Samstagabend eine Leiche. Auch wenn Raab unzufrieden sein wird mit seinem fünften Rang, so lässt sich aus den Punktetableaus ablesen, dass blutleere Liedchen aus Herz & Schmerz fürderhin als so museal abgetan werden wie Schelllackplattenkünstler am Ende der Sechzigerjahre: Kunst aus sehr vorgestriger Zeit.
Der NDR wird sich in seiner Mühe bestärkt fühlen, den Grand Prix zum nationalen Popereignis zu stilisieren und die empörten Ratschläge von Schlagermuseumswärtern wie Dieter Thomas Heck oder Uwe Hübner höflich, aber bestimmt zu überhören. Beide genannten Herren werden oft und öfter aus dem Programm geworfen, beim ZDF oder sonstwo: Ihr Stil ist nicht mehr zeitgemäß und bringt keine Quote. Die wiederum stimmte für die ARD: Über 10 Millionen sahen zu.
Was bleibt? Für das dänische Fernsehen viel Arbeit. Heute beginnen die Vorbereitungen für den nächsten Grand Prix. In Kopenhagen.
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